Phantomschmerzen. Susan Hill

Phantomschmerzen - Susan Hill


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er hier leben könnte? Das ganze Jahr über, in dem es monatelang um drei Uhr dunkel wurde, an einem Ort, an dem dunkel schwarz bedeutete? Das ganze Jahr über, in dem man für eine Woche oder länger vom Wetter eingesperrt werden konnte? Die elektronische Kommunikation war inzwischen gut, man konnte ebenso leicht mit der Außenwelt Kontakt aufnehmen wie alle, die auf dem Festland lebten, doch das bedeutete nur Wörter, schriftlich oder mündlich, die im Cyberspace hin und her flogen, keinen engen menschlichen Kontakt.

      Trotzdem, dachte er, schaute hinab, als die Sonne herauskam, auf der Meeresoberfläche funkelte und er die Köpfe von drei Seehunden sah, die nah am Strand auftauchten, trotzdem …

      Die Seehunde verschwanden so plötzlich, dass er sich umschaute, um zu sehen, was sie aufgeschreckt hatte. Eine Gestalt wanderte nah am Wasser über den Strand. Eine Frau in Watstiefeln und langem braunen Regenmantel, ein Schal um den Hals verbarg ihre Haare fast vollständig. Sie ging mit großen, gleichmäßigen Schritten, den Blick auf den Sand gerichtet. Kurz darauf bückte sie sich und hob etwas auf, prüfte es und steckte es in die Tasche. Ein Stück weiter wiederholte sie das Ganze.

      Eine Strandgutsammlerin also; vielleicht gab es dort eine gute Ausbeute, wo das Meer eine Linie aus Steinen und Abfällen hinterließ, wenn die Ebbe einsetzte. Hier waren die Gezeitenströmungen schnell. Die Frau ging weiter. Sie hatte Simon nicht gesehen. Er rührte sich nicht. Bald war sie hinter einem Felsvorsprung außer Sichtweite, und die Seehunde kamen wieder an die Oberfläche.

      3

      »Noch eine Minute.«

      »Fertig.«

      Felix kam polternd die Treppe herunter. Graue kurze Hose. Grauer Blazer mit der himmelblauen Paspel, die ihn als Chorjungen der Kathedrale kennzeichnete. Keine Kappe. Die waren abgeschafft worden, als Sam in die Schule kam.

      »Oboe?«

      Er schenkte Kieron Bright, seinem Stiefvater, einen langen, leidvollen Blick. Wenn er alles andere vergaß, dann doch bestimmt niemals seine Oboe, das Instrument, das er so bereitwillig angenommen hatte, dass es ihm innerhalb weniger Monate angewachsen schien.

      »Auf geht’s!«

      Kierons Fahrstrecke zum Polizeipräsidium Bevham führte ihn nicht an der Kathedrale vorbei, doch seit den ersten Tagen seiner Ehe mit Cat hatte er sich angeboten, Felix zu seinen frühen Chorproben zu fahren.

      »Das ist ganz einfach«, hatte er gesagt. »Es bedeutet, dass ich Felix jeden Morgen für mich habe. Dass ich gleich als Erster zur Arbeit komme. Es bedeutet, du musst es nicht machen, und wenn es für mich ein kleiner Umweg ist, dann ist es für dich auf deinem Weg zur Praxis ein großer. Keine Widerrede.«

      Das war sinnvoll, aber der beste Grund für sie war nicht der offensichtliche und praktische. Ihr Mann wollte eine Beziehung zu ihrem jüngeren Sohn aufbauen, und Felix schien mit der Abmachung ganz zufrieden – wobei Felix leicht zufriedenzustellen war. Er war ein glückliches, ruhiges Kind und nahm das Leben, wie es kam, freute sich an dem, was es bot, und hatte ihr kaum Ängste bereitet.

      Hannah, die an der Schule für darstellende Künste war, hatte sich von einem problematischen Kind zu einem talentierten jungen Mädchen entwickelt, das die unbeschwerte Fröhlichkeit ihres Bruders Felix teilte. Sam, ihr Ältester, war der Schwierige.

      Sie schaute dem Auto nach, wie es aus der Einfahrt bog, ihr Sohn wandte sich Kieron zu und plauderte angeregt. Dann fluchte sie leise vor sich hin, denn sie hatte vergessen, die beiden daran zu erinnern, dass sie am Abend Probe mit den St.-Michael-Singers hatte, die erste der neuen Saison. Ob Kieron daran dachte, dass er und Felix zum Abendessen allein zu Hause waren?

      Kieron schon. Ihn zu erinnern, wäre überflüssig. Er war Mr Planvoll, Mr Ordentlich, Mr Tüchtig.

      Er war auch der Ehemann, nach dem sie nie gesucht oder den sie nach Chris’ Tod erwartet hätte. Sie hatten gewisse Gemeinsamkeiten, was ihr schon immer klar gewesen war, aber Organisationsvermögen gehörte nicht dazu. Das hatte Chris nur in seiner Allgemeinpraxis an den Tag gelegt. Doch seine Hingabe und sein Engagement für die Arbeit waren dieselben gewesen, und Cat respektierte es, ebenso wie die Tatsache, dass diese Arbeit häufig an erster, zweiter und dritter Stelle kam, vor ihr. Sie hätte es nicht anders haben wollen. Im Übrigen, dachte sie jetzt, als sie hinaufging, um ihr Make-up für den Tag fertig aufzulegen, hatte sie oft ihre eigene Karriere vornan gestellt, was ein Familienleben nicht immer leicht machte. Als sie praktische Ärztin war, vor der neuen Regelung, die ihnen die Verpflichtung genommen hatte, nachts und an Wochenenden in Rufbereitschaft zu sein, hatte sie sich zwischen ihren Patienten und ihren Kindern zerrissen, und nur weil Chris auch Arzt war, ging es einigermaßen. Auch als sie Oberärztin im Imogen House war, dem Hospiz von Lafferton, hatte sie sich zwischen Loyalität und Pflichten aufgerieben.

      Nun war sie wieder Allgemeinmedizinerin in Teilzeit, keine Partnerin in einer Gemeinschaftspraxis. War alles verkehrt herum gelaufen? Mit zwei Kindern, die meist außer Haus waren, und einem Ehemann, mit dem sie Leben, Heim und Herd teilte, sollte sie mehr Stunden ihrer Arbeit widmen, nicht weniger.

      Doch das Verfassen eines Buches über Palliativpflege in der Allgemeinmedizin füllte die Stunden aus, die sie eingespart hatte, und sie hatte vor, noch mehr zu schreiben. Ihre Eltern waren beide Krankenhausärzte gewesen, hatten doziert, geforscht und geschrieben. Sie trat in die Fußstapfen der Familie.

      Anders als Si, dachte sie und zog die Bürste aus der Wimperntuschehülse. Sie musste ihm später noch eine E-Mail schreiben.

      Dann sollte sie sich noch mit Sam in Verbindung setzen, Sam oben in Newcastle, angeblich um einem Freund dabei zu helfen, sich an der Universität zurechtzufinden, eher jedoch, vermutete sie, um von zu Hause und der Notwendigkeit wegzukommen, Entscheidungen über seine eigene Zukunft zu treffen – und womöglich weg von seinem Stiefvater, obwohl sie sich in der Hinsicht nicht ganz sicher war. Kieron hatte gesagt, zwischen ihnen laufe alles gut, nur dass sie sich noch zurechtruckeln mussten. Sam hatte sich dazu nicht geäußert.

      Bei ihrer Hochzeit war er still gewesen, aber ganz gut gelaunt. Nur die Familien und ein paar enge Freunde waren dabei gewesen, und sie hatte in der kleinen Marienkapelle der Kathedrale stattgefunden. Sie und Kieron hatten von Anfang an beschlossen, sie sollte von niemandem zu ihm geführt werden, sie wollten sich gemeinsam präsentieren, auf Augenhöhe. Ebenfalls von Anfang an hatte ihr Vater gesagt, dass er nicht teilnehmen werde. Simon hatte sich noch nicht erholt, nachdem er nach dem Angriff auf der Schwelle des Todes gestanden, den linken Arm verloren und ein paar Wochen im Krankenhaus verbracht hatte. Er hatte freudig gewirkt, aber zurückhaltend, und war immer noch traumatisiert. Der Tag war schön gewesen, Cat hatte keinerlei Zweifel daran gehabt, wieder zu heiraten, war jedoch froh, als es vorbei war und sie sich nach den paar Tagen in New York, mit denen Kieron sie überrascht hatte, im Alltag einrichten konnten.

      Sie schminkte sich fertig, fuhr sich rasch noch einmal mit der Bürste durch die Haare und machte sich auf den Weg in die Praxis, wobei sie sich durchaus bewusst war, dass sie ihren früheren Enthusiasmus für die Arbeit eingebüßt hatte. Es war nicht dasselbe. Die Krise in der Allgemeinmedizin hatte die Hingabe und Leidenschaft bei der Sorge um Patienten stark beeinträchtigt, die ihrerseits von Ärzten und den ihnen erwiesenen Diensten desillusioniert und demzufolge fordernder waren und mehr zu Beschwerden neigten.

      Auf dem Fahrersitz fand sie einen Zettel.

      Kopf hoch. Der Tag wird gut. Ich liebe dich. K.

      Er hinterließ ihr solche Notizen, nicht jeden Tag, denn dann könnte sie die ja als selbstverständlich ansehen, sondern nur zufällig, einen Klebezettel an ihrem Spiegel oder auf dem Kissen, ein Blatt aus einem Notizbuch, so wie heute im Auto. Sie steckte den Zettel in ihre Tasche und fuhr los, ein Lächeln auf den Lippen.

      Als sie in die Praxis kam, sah sie eine vertraute Gestalt an der Rezeption. Mrs Coates, neunundachtzig und zerbrechlich, litt schon lange unter Arthritis und Polymyalgie, hatte sich erst vor Kurzem von einer Lungenentzündung erholt und beklagte zunehmende Sehschwäche. Sie lebte allein, war eisern gewesen, hatte aber, so glaubte Cat, genug davon, alleine mit dem Leben zu kämpfen.

      »Ich verstehe ja«, sagte sie gerade zu Angella,


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