Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe). Jean Jacques Rousseau
ich habe es ganz zu Ende gelesen.
R. Ganz zu Ende? Ich verstehe; Sie glauben, daß Wenige Ihnen das nachthun werden.
N. Vel duo, vel nemo. [„Zwei oder Keiner.“]
R. Turpe et miserabile [„O schändlich und Jämmerlich. Satyr. I, 3.“]. Aber ich wünsche ein bestimmtes Urtheil.
N. Ich wage nicht —.
R. Was wäre noch zu wagen, nachdem dies Wort heraus ist? Also sprechen Sie!
N. Mein Urtheil hängt von der Antwort ab, welche Sie mir jetzt geben werden. Ist dieser Briefwechsel wahr oder erdichtet?
R. Ich sehe nicht ein, was das zur Sache thut. Was nutzt es, um zu entscheiden, ob ein Buch gut oder schlecht sei, daß man wisse, wie es entstanden ist?
N. In diesem Falle nutzt es viel. Ein Porträt hat immer seinen Werth, wenn es gleicht, möge das Original noch so wunderlich sein. Aber in einem erfundenen Gemälde muß jede menschliche Gestalt die allgemeinen menschlichen Züge an sich tragen, sonst taugt das Gemälde nichts. Gesetzt, es sind beide Bilder gut, so ist noch der Unterschied, daß das Porträt für wenige Personen ein Interesse hat; nur das Gemälde kann Allen gefallen.
R. Ich merke, wohin Sie wollen. Wenn diese Briefe Porträts sind, so interessiren sie nicht; sollen sie Gemälde sein, so schildern sie schlecht. Nicht wahr?
N. Das ist es.
R. Sie wollen mich Ihre Antworten weghaschen lassen, ehe Sie sie mir geben. Gut, aber da ich nicht im Stande bin auf Ihre Frage zu antworten, so werden Sie schon davon absehen müssen, um die meinige zu entscheiden. Setzen Sie den schlimmsten Fall: meine Julie —
N. O, wenn sie eine wirkliche Person wäre!
R. Nun?
N. Aber es ist sicher bloße Dichtung.
R. Nehmen Sie es so an.
N. In diesem Falle kenne ich nichts Abgeschmackteres. Diese Briefe sind keine Briefe, dieser Roman ist kein Roman; die handelnden Personen sind Wesen aus jener Welt.
R. Es thut mir leid, um diese Welt.
N. Trösten Sie sich! Es fehlt ihr ganz und gar nicht an Narren; die Ihrigen sind aber unnatürlich.
R, Ich könnte Ihnen .... Nein! ich sehe, wie Ihre Neugier hinten herum kommt. Was berechtigt Sie zu diesem Urtheil? Wissen Sie denn, wie weit die Verschiedenheit der Menschen gehen kann? Wie weit die Charaktere aus einander liegen und wie mannichfaltig sich nach Zeit, Ort, Alter die Sitten gestalten können? Wer darf es wagen, der Natur unwandelbare Grenzen zu setzen und zu sprechen: Bis hierher und nicht weiter?
N. Mit dieser schönen Floskel könnten Sie das Ungeheuerste, Riesen, Pygmäen, kurz, jede Ausgeburt der Einbildungskraft in die Natur hereinschaffen und das Unterste zu oberst kehren; wir würden gar kein allgemeines Vorbild mehr haben. Ich wiederhole, in einem Menschengemälde muß man den Menschen erkennen.
R. Das gebe ich zu, vorausgesetzt, daß man Alles, was dem Wechsel unterworfen ist, von dem, was der Gattung wesentlich angehört, zu unterscheiden wisse. Was würden Sie dazu sagen, wenn Einer den Menschen nur im modernen Leibrock erkennen wollte?
N. Was würden Sie dazu sagen, wenn Einer einen Menschen malen wollte und malte eine Gestalt ohne Gesicht, ohne Körper, ganz und gar in einen weiten Schleier gehüllt? Würden Sie nicht mit Recht fragen, wo denn der Mensch sei?
R. Ohne Gesicht, ohne Körper! Sind Sie gescheit? Keine vollkommene Menschen; das ist das ganze Ungeheuere.
Ein junges Mädchen, welches von der Tugend weicht, obgleich es sie liebt und durch den Abscheu vor einem größeren Verbrechen zur Pflicht zurückgeführt wird; eine zu gefällige Freundin, die ihr eigenes Herz zuletzt für das Uebermaß ihrer Nachsicht straft; ein junger Mann, der gesittet und gefühlvoll ist, sehr schwach allerdings und von vielen Phrasen; ein alter Herr, der auf seinen Adel stolz ist und Alles der Meinung aufopfert; ein Engländer, brav, edelmüthig, immer vor lauter Weisheit in Leidenschaft und aus lauter gutem Bedacht unbedächtig ....
N. Ein seelensguter und so gastfreundlicher Ehemann, daß er nichts Eiligeres zu thun hat, als den ehemaligen Liebhaber seiner Frau in sein Haus einzuquartieren ....
R. Ich verweise Sie auf die Unterschrift des Kupferstichs [Des siebenten, welcher die Ankunft Saint Preur' auf Wolmar's Landgute vorstellt und die Unterschrift hat: „Wie schöne Seelen einander vertrauen" (La confiance des belles ames). D. Ueb.].
N. „Schöne Seelen" — ein prächtiges Wort!
R. O Philosophie! wie viel Mühe du dir giebst, die Herzen enge, die Menschen klein zu machen!
N. Der romantische Geist macht sie groß und äfft sie. Aber wieder auf unseren Gegenstand zu kommen: die beiden Freundinnen? ... he, was meinen Sie? .... Ach, und die urplötzliche Bekehrung in der Kirche? .... Die Gnade Gottes, nicht wahr? ....
N. Aber ....
N. Eine Christin, eine Fromme, die ihre Kinder nicht den Katechismus lernen läßt, die in ihrer Todesstunde nicht beten will, deren Tod dessenungeachtet einen Pastor erbaut und einen Atheisten bekehrt .... Oh! ....
R. Aber ....
N. Und für wen soll man sich interessiren? Für Alle. Das ist so gut als für Keinen, Keine schlechte Handlung, kein schlechter Mensch, der Einem für die guten bange macht; Begebenheiten so natürlich, so einfach, daß es zu arg ist; nichts Unerwartetes, kein Theaterstreich: man sieht Alles lange voraus kommen, und Alles kommt gerade so, wie man es vorausgesehen hat. Lohnt es der Mühe, Dinge aufzuzeichnen, die Jeder alle Tage in seinem oder in seines Nachbars Hause sehen kann?
R. Das heißt: Sie verlangen gewöhnliche Menschen und ungemeine Begebenheiten: mir würde, glaube ich, das Gegentheil lieber sein. Uebrigens, Sie richten das, was Sie gelesen haben, als Roman. Jedoch es ist keiner: Sie sagten es ja selbst. Es ist eine Sammlung von Briefen.
N. Die keine sind, sagte ich auch, wie ich glaube. Schreibt man so Briefe? So geschraubt? Was für Ausrufungen! was für Umstände! was für Aufwand, um das Gewöhnlichste zu sagen! was für Phrasen für unbedeutende Gedanken! Wenig Menschenverstand, wenig treffendes Unheil! Nirgend Feinheit, Kraft, Tiefe! Eine Sprache, die beständig in den Wolken schwebt und Gedanken, die beständig auf der Erde kriechen. Wären auch Ihre Personen natürliche Menschen, so müssen Sie doch einräumen, daß ihr Styl nicht eben natürlich ist.
R. Ich räume ein, daß es Ihnen nach dem Gesichtspunkte, welchen Sie gewählt haben, so scheinen muß.
N. Glauben Sie, daß das Publikum mit anderem Auge sehen wird? Und dann, war es nicht mein Urtheil, welches Sie verlangten?
R. Ja, und um es noch ausführlicher zu vernehmen, mache ich meine Einwendungen. Ich sehe, daß Sie lieber Briefe haben möchten, die für den Druck geschrieben wären.
N. Dieser Wunsch scheint mir ziemlich wohl begründet in Bezug auf solche, die man in Druck giebt.
R. So soll man denn in den Büchern die Menschen nie anders sehen, als sie sich zeigen wollen?
N. Den Verfasser, so wie er sich zeigen will; diejenigen, welche er schildert, so wie sie sind. Aber auch diese gute Eigenschaft fehlt hier. Nicht Ein kräftig gezeichnetes Porträt, nicht Ein recht ausgeprägter Charakter, keine sichere Beobachtung, keine Weltkenntniß. Was lernt man in dem engen Kreise von zwei oder drei Liebenden, die immer nur mit sich beschäftigt sind?
R. Man lernt die Menschheit lieben. In den großen Gesellschaften lernt man nur die Menschen hassen.
Sie urtheilen streng; das Publikum wird noch strenger urtheilen. Ohne es der Ungerechtigkeit zu zeihen, will ich Ihnen meinerseits sagen, wie ich diese Briefe ansehe; weniger, um die Fehler, welche Sie denselben vorwerfen, zu entschuldigen, als um die Quelle dieser Fehler aufzudecken.
In der Zurückgezogenheit hat man eine andere Art zu sehen und zu empfinden als im Verkehre mit der Welt; Leidenschaften, anders geartet, schaffen sich auch eine