Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band). Else Ury
und als Spionin verhaftet – –«
»Als Spionin – meine Mutti als Spionin!« Nesthäkchen schrie es mit ungestümer Heftigkeit. Und dann brach es in eine Flut von Tränen aus.
»Still, Herzchen, ruhig – reg’ dich nicht so auf, mein Liebling«, tröstete Großmama mit matter Stimme, trotzdem sie selbst des Zuspruchs bedurfte. »Es muß sich ja herausstellen, daß es ein grundloser Verdacht ist, dann wird sie wieder frei gelassen. Weine doch bloß nicht so, mein Kleines«, dabei rollten Großmama selbst die Tränen aus den alten Augen.
Aber Annemarie hörte nicht auf zu schluchzen.
Ihre über alles geliebte Mutti im Gefängnis – als Spionin … ein Gedanke durchzuckte plötzlich Annemarie. Wie … war sie etwa selbst schuld daran, wollte der liebe Gott sie dafür strafen, daß sie Vera als Spionin verdächtigt hatte … Wollte er ihr zeigen, wie weh solcher Verdacht tat … Immer heißer flossen Nesthäkchens Tränen.
Als Klaus nach Hause kam und nichtsahnend durch die Wohnung schmetterte: »Karlchen, wo steckst du?« da war es Annemarie zumute, als seien Wochen vergangen, seit sie als »Karlchen« so lustig den Wollwagen gezogen hatte, und nicht wenige Stunden.
»Au weh – so doll hat es was abgesetzt?« fragte der Bruder, mit drollig hochgezogenen Augenbrauen auf das verweinte Schwesterchen blickend.
»Nee – Mutti – meine Mutti – – –« mehr brachte die arme Kleine nicht heraus.
Wieder mußte Großmama sich die Worte von den Lippen ringen.
Klaus schrie und weinte nicht, wie es Annemarie getan. Er ballte die Hände zu Fäusten, als wolle er gegen einen unsichtbaren Feind los, und »Gott strafe England!«, das war das einzige, was er vorläufig in ohnmächtiger Empörung wild herausstieß.
Dann saßen die beiden Geschwister, die noch vor kurzem so ausgelassen gewesen, ganz zerschmettert und studierten gemeinsam den Brief der Mutter.
Nur wenige Zeilen waren es:
»Meine Geliebten alle daheim! Ich muß Euch heute Schmerz zufügen, und das tut mir noch weher, als es Euch tun wird. Ich befinde mich nicht mehr bei den Verwandten. Meiner Begeisterung über die Erfolge unserer Unterseeboote habe ich unvorsichtigerweise gegen Kusine Annchen allzu laut Ausdruck gegeben. Diese Äußerung ist von anderen gehört und wohl entstellt zur Anzeige gebracht worden. Die Folge davon war meine Festnahme als mutmaßliche Spionin. Es geht mir hier verhältnismäßig nicht schlecht. Ich hoffe zu Gott, daß meine Unschuld sich in allernächster Zeit herausstellen muß und ich wieder frei gelassen werde.«
»Wenn sie die Mutti man bloß nicht als Spionin erschießen«, unterbrach hier Klaus, Entsetzen in den sonst so übermütigen braunen Augen, das gemeinsame Lesen.
»Klaus – – –«, gellend schrie es Nesthäkchen. Dann verhüllte eine mitleidige Ohnmacht dem armen Kind die furchtbaren Gedanken.
Als Annemarie wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Bett. Zur Seite desselben saß die liebe Großmama mit sorgenvollem Gesicht. Fräulein ging ab und zu und legte kalte Umschläge auf die Stirn des kleinen Mädchens.
»Großmama, ich habe so furchtbar geträumt, oder – – – ist es wahr, Großmama … sag’ doch, bitte, bitte, sag’ doch, daß es nicht wahr ist – – –« angstvoll klammerte sich Annemarie an Großmamas Hand.
»Es ist leider die Wahrheit, mein Liebling. Aber was Klaus gesagt hat, das ist dummes Zeug. Auf einen bloßen Verdacht hin wird keiner abgeurteilt. Onkel John wird schon dafür sorgen, daß sie Mutti bald wieder freilassen.«
»Ja, meinst du wirklich, Großmuttchen?« wie erlöst schloß Nesthäkchen wieder die Augen. Tiefe Abspannung folgte aus die furchtbare Aufregung.
Ganz so zuversichtlich, wie Großmamas Worte zur Beruhigung des Kindes geklungen, empfand die alte Dame in ihrem Herzen nicht. Das englische Volk war erbittert über erhebliche Schiffsverluste durch die Unterseeboote, über den nächtlichen, bombengefährlichen Besuch der Flieger und Zeppeline. In den großen Städten war es zu Ausschreitungen der Bevölkerung gegen deutsche Firmen und Familien gekommen. Konnte Feindseligkeit und Gehässigkeit nicht auch harmlose Äußerungen ihrer Tochter so entstellen, daß eine genügende Belastung vorlag …
»Lieber Gott, da oben, erbarme du dich!« aus angstvollem Mutterherzen stieg in tiefer Seelennot ein heißes Flehen zu dem empor, der die Geschicke der Völker und Menschen lenkt.
16. Kapitel
Nesthäkchen macht ihr Unrecht gut
Goldener Frühling war in das Land gezogen. Neue Hoffnungsfreude goß er in die Herzen der Menschen und ganz besonders in die der Jugend. Alles erneute sich draußen in der Natur, sproßte und blühte – wo blieben da schwere oder gar traurige Gedanken? Die blies der Lenzwind übermütig davon.
Auch Klaus und Annemarie fühlten die Macht des Frühlings. Nachdem sie einige Tage gedrückt und still einhergegangen, erwachte allmählich wieder Jugendfrohsinn und Jugendhoffnung. Noch war ja nichts verloren, vielleicht war die Mutter überhaupt schon wieder auf freien Fuß gesetzt, die Briefe blieben ja so lange unterwegs. Wozu den Kopf hängen lassen, wenn noch gar kein Grund dazu war!
Die beängstigende Stille, die mehrere Tage im Braunschen Hause geherrscht, machte allmählich gewohnter Lebhaftigkeit Platz. Klaus schmetterte wieder durch die Wohnung, und Nesthäkchen begann wieder zu singen und zu springen. Nur manchmal blickten die Kinderaugen so nachdenklich drein, daß die liebe Frühlingssonne Mühe hatte, den ungewohnten Ernst darin fortzulachen.
Hans, seit Oktober Unterprimaner, hatte am meisten durch die böse Nachricht gelitten. Ganz still, ganz für sich. Keiner merkte es, wie tief es dem Jungen gegangen. Er nahm sich mit aller Kraft zusammen, um als Ältester der Großmutter in den schweren Tagen eine seelische Stütze zu sein. Nur einmal kam es zum Ausbruch: »Wenn doch Vater erlauben würde, daß ich mich stelle, zwei aus meiner Klasse sind schon im Felde. Wenn ich doch gegen die Engländer ziehen könnte! Jede Träne, die Mutti vergießt, sollten sie mit ihrem Blut bezahlen!« Großmama sah ganz erschrocken auf den Erregten. Was hatte der Krieg aus dem sanften Jungen gemacht!
Zu Ostern war Nesthäkchen als Zweite in die fünfte Klasse versetzt worden. Die Erste war diesmal Ilse Hermann geworden. Annemaries Zensur war vorzüglich ausgefallen, aber sie hatte keine rechte Freude daran. Trotz des Theaterbilletts zu »Wilhelm Teil«, das Großmama ihr und Klaus, der sich auch in diesem ernsten Winterhalbjahr mehr Mühe gegeben, schenkte. Ja, wenn Vatchen und Mutti sich hätten über ihre fleißige »Lotte« freuen können, aber so …
Nesthäkchen hatte es in diesen Kriegsmonaten bereits gelernt, daß es für jeden galt, Opfer zu bringen. Doch es wollte dem glückverwöhnten kleinen Mädel scheinen, als ob kein anderer so große Opfer zu leisten habe, als es selbst. Von den Mitschülerinnen war doch nur der Vater draußen im Felde, die Mutter hatten sie doch fast alle daheim. Sie aber mußte Vater und Mutter entbehren, und noch um das Leben der letzteren zittern. Denn die Worte von Klaus hatte Annemarie durchaus nicht vergessen. Wie einen Stich fühlte sie dieselben oft durch ihr Herz zucken, manchmal mitten in der Schulstunde.
Meist war dies der Fall, wenn ihr Blick die schwarzlockige Vera streifte. All das Weh, das sie dem armen Mädchen durch ihren unbegründeten Verdacht zugefügt hatte, empfand Doktors Nesthäkchen jetzt selbst, wenn sie an ihre gefangene Mutter dachte. Hatte sie Vera nicht ein gleiches Unrecht getan, wie die Engländer ihrer Mutti? Pfui – und sie war ein deutsches Mädchen, war stolz darauf, es zu sein.
»Mach’ gut, es ist nie zu spät zum Gutmachen!« flüsterte in Annemarie die Stimme, die oft unbequem ist, aber immer den richtigen Weg weist. Dann hatte Annemarie wohl auch den besten Willen dazu, aber – es war so schwer! Die Kleine schreckte davor zurück, vor den Schulkameradinnen einzugestehen, daß sie unrecht gehandelt hatte.
Und doch war Vera diejenige in der Klasse, bei der selbst Annemarie