Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band). Else Ury
los.
Der verschanzte sich lachend gegen einen als Schild erhobenen Korbsessel.
»Reg’ dich wieder ab, Annemie. Der Pfannkuchen hat deinem lieben Bruder mindestens so gut geschmeckt wie deinen Kränzchenschwestern. Und da du mit deiner Vera stets ein Herz und eine Seele bist, könnt ihr ja auch mal ein Magen sein und euch den Pfannkuchen teilen,« schlug der Primaner mit Gemütsruhe vor.
Aber gerade diese goß Öl in das Feuer von Annemaries leicht aufflammendem Temperament.
»Wenn es noch ein Stück Napfkuchen gewesen wäre!« Die Empörung über den gemausten Pfannkuchen überwältigte das junge Mädchen wieder. »Und mein Zimmer paffst du mir auch mit deiner alten Zigarette voll. Bei dem Sturm kann ich nicht mal ein Fenster aufmachen.« Wieder erfolgte ein energischer Vorstoß auf den Bruder.
»Was, ihr Mädels wollt Sekundaner sein und könnt nicht mal ein bißchen Zigarettendampf vertragen? Na, warte, Annemie, ich werde daran denken, wenn du mir mal wieder Zigaretten abbettelst.« Damit blies er der hübschen Schwester eine große Rauchwolke in das Gesicht.
Jetzt ging der Kampf um die Zigarette. Annemarie war geschmeidig wie eine Eidechse. Aber auch Klaus war geschickt und behende. Bald balgten sich die zwei kunstgerecht, wie sie es von klein auf getan hatten. Wenn es jetzt auch mehr Scherz war und weniger erbitterte Formen annahm.
Der Korbsessel stürzte zu Boden. Die Blumenkrippe am Fenster kam bedenklich ins Wanken. Annemaries Blondzöpfe, die sie seit kurzem mit einer schwarzen Seidenschleife am Hinterkopf aufgesteckt trug, entsprangen den fesselnden Nadeln. Puck, das weiße Zwerghündchen, sprang bald an dem einen, bald an dem andern laut blaffend empor, als wolle es seine Neutralität den beiden kriegführenden Parteien bezeigen.
Bums – da flog der goldgeränderte Milchtopf um. Eine weiße Flut ergoß sich über das schöne goldgelbe Damastgedeck.
»Mutti – Mutti – der Klaus hat – der Milchtopf ist umgefallen.« Annemaries Wahrheitsliebe mußte ihr doch denselben Anteil Schuld zusprechen. »Mutti – ach Gott, hier schwimmt alles!« Der große Backfisch rief nach der Mutter wie das kleine Nesthäkchen aus den Kindertagen.
In der zum Speisezimmer führenden Tür erschien Frau Doktor Braun. Eine schlanke Dame mit noch jungem Gesicht trotz des früh ergrauten Haars.
»Aber Kinder – schämt ihr euch denn gar nicht, ihr großen Menschen, euch wie die Gören zu betragen! Was sollen deine Freundinnen nur davon denken, wenn sie hier das wüste Durcheinander sehen, Lotte. Und mein Kaffeegedeck ist auch verdorben. Hatte ich nicht recht, daß ich es dir nicht geben wollte?« Vorwurfsvoll blickte die Mutter auf den jetzt wenig einladenden Tisch.
»Milch gibt keine Flecke, Kaffee wäre schlimmer.« Klaus pflegte allem im Leben die beste Seite abzugewinnen.
Während Annemarie mit ihrem kleinen Batisttaschentuch vergeblich die Milchfluten zu dämmen versuchte, öffnete sich die zweite zum Korridor führende Tür des Zimmers. Das Hausmädchen meldete: »Fräulein Annemarie – Fräulein Vera.«
Da trat auch schon ein schlankes junges Mädchen, Annemaries Intima, ins Zimmer. Der matte, elfenbeinfarbene Hautton ihres zarten Gesichtes bildete einen reizvollen Gegensatz zu dem tiefschwarzen Haar.
»Puh – hat es gegeben hierr Krrieg?« Lachend wies die Freundin auf die noch von dem Kampf zeugenden Spuren. Ihr Deutsch verleugnete die polnische Abstammung von der Mutter her noch immer nicht, trotzdem Vera schon einige Jahre in Deutschland lebte. Jetzt erst entdeckte das Backfischchen die in der Tür zum Speisezimmer lehnende Frau Doktor Braun.
Errötend holte es den verabsäumten Gruß nach und bestellte Empfehlungen von der Tante, in deren Haus das junge Mädchen aufwuchs. Denn Vera war eine Waise.
»Guten Tag, Vera. Nun kann sich meine Lotte mal tüchtig vor dir schämen, daß sie mit dem Klaus keinen Frieden hält. Draußen ist der Krieg nun glücklich zu Ende, aber hier in unseren vier Pfählen tobt er immer noch.« Es sollte scherzhaft klingen, aber man hörte doch einen mißbilligenden Ton aus den Worten der Mutter heraus.
Doktors Nesthäkchen schämte sich wirklich. Es begrüßte die Freundin lange nicht so jubelnd, wie das sonst der Fall war.
»Tag, Verachen. Sei froh, daß du keinen Bruder in Berlin hast.« Seufzend machte sich Annemarie daran, die entsprungenen Haarnadeln vom Teppich zusammenzusuchen, um die herabgerutschte Frisur wieder aufzustecken. Vera half ihr dabei.
»Oh, ich tue serr wünschen, daß Brruder Stani lebt auch hierr in Berlin bei die Onkel und Tante. Wenn er mirr auch noch so serr ärrgern wollte. Czernowitz ist so serr weit – oh, so serr!«
Traurig schaute das junge Mädchen in die Ferne.
Klaus aber rief lebhaft: »Da siehst du, Annemie, wie andere Leute über Brüder denken. Wir sind ein sehr begehrter Artikel.« Pfeifend schritt er in sein Zimmer.
»Ja, nach meinem Hänschen bange ich mich auch. Da wünschte ich ebenfalls, er studierte in Berlin und nicht in Freiburg,« rief Annemarie lebhaft hinter ihm drein.
Inzwischen hatte das Hausmädchen eine andere Kaffeedecke aufgelegt und die Ordnung im Zimmer wieder hergestellt. Es war auch die höchste Zeit, denn zum Kränzchen war man pünktlich.
Annemarie hatte gerade noch ihre eben erblühte mattrosa Hyazinthe, die sie in Gläsern zwischen den Doppelfenstern zog, unter Veras lebhafter Bewunderung auf den Tisch gesetzt. Da ging die Türklingel in kurzen Zwischenräumen hintereinander.
»Eins – zwei – drrei – vierr – sie werrden kommen, alle auf eine Mal.« Die beiden Freundinnen lauschten hinaus.
»Es können auch Patienten sein, Vater hat noch Sprechstunde.« Trotzdem es der beweglichen Annemarie in den Füßen zuckte, hinauszueilen, um zu sehen, ob die Freundinnen da wären, bezwang sie ihre Ungeduld. Der Vater liebte es nicht, wenn sie sich während der Sprechstunde im Korridor aufhielt.
Es waren die Kränzchenschwestern. Alle vier zugleich. Das heißt, Ilse Hermann und Marlene Ulrich, die beiden Cousinen, erschienen nie eine ohne die andere. Sie holten sich stets gegenseitig ab.
»Tag, Annemie, Tag, Vera – puh, ist das ein Wetter!« Die Freundinnen brachten einen frischen Hauch von Winterkälte mit in das mollige Zimmer.
»Marianne, du hast dir die Füße nicht ordentlich auf der Strohdecke draußen abgetreten,« sagte Margot Thielen, die peinlich saubere, und wies vorwurfsvoll auf die schwärzlichen Spuren, die Mariannes derbe Stiefel auf dem hellgrauen Teppich hinterließen.
»Macht nix – trocknet wieder,« entschied Annemarie mit der ihr eigenen Sorglosigkeit. »Kommt nur gleich Kaffee trinken, da werdet ihr am schnellsten warm.«
»Ich sitzen auf die Sofa« – »au, Pfannkuchen« – »habt ihr die Mathematikaufgaben schon gemacht« – »na, ich kriege sie nicht raus« – »ach, Kinder, fangt doch bloß nicht gleich mit der dummen Schule an, dazu ist nachher auch noch Zeit,« so schwirrten die Mädchenstimmen lustig durcheinander.
Minna brachte den Kaffee. Aber einschenken mußte ihn die junge Wirtin selber. So verlangten es die Kränzchenparagraphen. Ob es die Minna nun zu gut gemeint und die Kanne zu voll gefüllt hatte, oder ob Annemaries huschliges, unachtsames Wesen die Schuld daran trug, genug – auch die zweite Kaffeedecke mußte dran glauben. Diesmal war es ein bräunlicher See, der sich zu Füßen der mattrosa Hyazinthe ergoß.
Aber das störte die fidele Kränzchenlaune durchaus nicht. Wenn auch Margot Thielen, »Tugendschäfchen« genannt, sich nicht enthalten konnte, auszurufen: »Au weh, Annemie, deine Mutter wird schön schimpfen.«
Man ließ es sich schmecken. Ein edler Wettstreit entspann sich um den zu teilenden Pfannkuchen. Keine wollte einen ganzen essen, jede verzichtete großmütig zugunsten der andern. Der Erfolg davon war, daß sogar noch zwei Pfannkuchen übrig blieben. Bei einem Haar wären dieselben noch in Klaus’ unersättlichen Magen gewandert. Als er im Nebenzimmer den uneigennützigen Wettstreit vernahm, erbot er sich großmütig, sich zu opfern und die mit Pflaumenmus gefüllten beiden Urheber der lebhaften Auseinandersetzung ebenfalls