Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band). Else Ury
– hier!« schrie Nesthäkchen zurück, und eine Bergeslast fiel ihm vom Herzen. Das war das Unrecht, das es im Begriff gewesen war, zu begehen und das ihm schon im voraus schwer auf der Seele lag.
»Hier – ich komme schon – du mußt auch mitkommen, Mizi.« Wie die wilde Jagd ging es über ächzendes Moos und knackendes Geäst talwärts. Annemarie sah jetzt erst im Herabsausen, wie hoch sie bei ihrem Beerensuchen in die Berge hinaufgeklettert war.
»Aber Annemie, wie leichtsinnig, dich so weit fort zu wagen.« – Fräulein, die das Kind schon geraume Zeit gesucht hatte, hielt plötzlich mitten in ihrer Strafpredigt inne. Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen tauchte nicht nur ein kleines Bauernmädel vor ihr auf, sondern zwei.
»Das ist die Himbeermizi«, stellte Annemarie die neue Bekannte vor. »Sie hat fünf süße, lebendige Kätzchen und will mir eins davon schenken. Bitte, liebes, gutes Fräulein, wir wollen doch gleich mitgehen, sie wohnt ganz in der Nähe.«
»Aber Annemie, was sollen wir denn in Berlin mit einer Katze anfangen? Die kannst du doch nicht in einen Vogelbauer setzen wie dein Mätzchen! Und wenn sie frei herumläuft, würde Puck sie sicher beißen«, stellte Fräulein dem enttäuschten Kinde vor.
»Ach, aber Mizi könnte sie mir doch, solange ich hier bin, ein bißchen borgen, und die kleinen Meergänschen würden sich sicher auch sehr freuen, wenn wir ihnen das Kätzchen nachher zum Abschied schenken. Ansehen können wir es uns doch wenigstens, die Mizi wohnt ja gar nicht weit«, so bettelte Klein-Annemarie.
»Wir wollen erst unsere Himbeeren ins Haus tragen. Nanu, Annemie, sind das alle, die du gepflückt hast? Da scheinen ja die meisten in deinen Magen gewandert zu sein.« Fräulein sah verwundert den fast leeren Topf von Nesthäkchen.
»Ich habe meine Himbeeren der Mizi geschenkt, weil die sie doch verkauft und für das Geld Milch kaufen muß«, berichtete Annemarie.
»Das ist recht, Kind«, lobte Fräulein. »Nun wollen wir auch der Mizi ihre Beeren abkaufen, und dann mag sie uns meinetwegen ihre Kätzchen zeigen.« Erfreut folgte das kleine Beerenmädel der Voranschreitenden ins Haus. Das zweite kleine Bauernmädel aber blieb mit einem eigentümlichen Gefühl zurück.
Fräulein hatte sie für etwas gelobt, das sie doch eigentlich viel mehr um ihrer selbst willen getan hatte, als um Mizi eine Freude zu machen. Hauptsächlich hatte sie der Mizi doch ihre Himbeeren geschenkt, um möglichst schnell die kleinen Katzen zu sehen.
So nah, wie Annemarie sich das vorgestellt hatte, war das Hüttlein von der Himbeermizi nun nicht. Es war doch gut, daß sie nicht allein dorthin mitgelaufen war, daß Fräulein sie gerade noch im letzten Augenblick gerufen hatte. Erst mußten sie wieder tüchtig im Walde hinaufklettern, dann ging es hinaus auf die leuchtendgrünen Matten, die wie weiche Samtteppiche über die Berge gebreitet waren. Verstreut lagen darin die Häuslein und Hütten.
»Ach, hier wohnst du? – ist das aber ein olles Haus!« Klein-Annemarie sah geringschätzig auf das elende Hüttlein mit dem Strohdach.
Mizi stieg das Blut bis an die glattgebürsteten, semmelblonden Haare. Fräulein aber sagte verweisend: »Pfui, Annemie! Weißt du noch nicht, daß in dem schönsten Palast schlechte Menschen wohnen können und in dem armseligsten Hüttlein brave Leute? Ich hätte meine Annemie für weniger stolz gehalten!« Da schämte sich Annemarie ihres häßlichen Ausspruchs noch mehr als die Mizi ihres baufälligen Hüttleins.
Als Mizi ihre Gäste nun zaghaft in das kleine Stübchen führte, das so sauber und nett aussah mit den buntblühenden Blumenstöcken am Fenster, da gefiel es jedoch auch Annemarie hier. Während sie die Holzwiege mit dem sanft schlummernden Brüderle bewunderte – denn eine Wiege hatte das Stadtkind noch nie gesehen –, fragte Fräulein die Mizi nach ihren Eltern.
»Der Vatel und die Muttel arbeiten in der großen Papierfabrik im Nachbardorf. Da gehen sie schon in aller Früh’ hin und kommen erst des Abends heim.«
»Ja, aber wer sorgt denn da für euch Kinder?« forschte Fräulein.
»Nu, halt ich, ich richte die Betten und kehre die Stube und versorge das Brüderle«, klang es ganz selbstverständlich aus dem Munde des achtjährigen Kindes.
Jetzt wurde Annemarie so rot wie vorhin die Mizi. Auch ohne Fräuleins sprechenden Blick empfand sie es, wieviel mehr das arme Kind, das in einem Hüttlein lebte, leistete als sie selbst, die in einem schönen Hause wohnte.
»Gehst du denn gar nicht in die Schule?« erkundigte sich Annemarie schüchterner, als das sonst ihre Art war.
»Freilich, dann paßt die Nachbarin auf den Bub auf, und auch, wenn ich Beeren suche. Aber jetzt haben wir zwei Monate lang Kartoffelferien.«
»Was für Ferien?« lachte Annemarie, und ihre Befangenheit verflog.
»So nennt man die Sommerferien hier auf dem Lande, weil die Eltern ihre Kinder für die Erntearbeit brauchen«, erklärte ihr Fräulein. »Aber an der fleißigen Mizi kann sich jedes Kind ein Beispiel nehmen, was?«
Zum Glück überhob Mizi die Kleine einer Antwort. Sie brachte in ihrem geflickten Schürzchen fünf junge Kätzchen aus dem Kaninchenstall herzugetragen. Zwei schneeweiße, eine graue, eine weiß-schwarz gefleckte und einen kleinen, schwarzen Kater. Die alte Katze aber kam argwöhnisch hinterhergelaufen, um zu sehen, ob ihren Kleinen auch kein Leids geschah.
Wirklich, Mizi hatte nicht zuviel versprochen. Süß waren die kleinen, spielerischen Dinger! Wie drollig sie durcheinandertollten, nach ihrem eigenen Schwänzchen haschten und sich gegenseitig ohrfeigten!
Nesthäkchen jubelte so laut, daß das Brüderle aufwachte und ein jämmerliches Geheul hören ließ. Da ging Mizi in die kleine Küche zum Herd, auf den sie kaum hinaufsehen konnte, langte Milch herunter, füllte ein Fläschchen und flößte sie dem Kinde geschickt ein.
Annemarie teilte ihre Bewunderung währenddessen getreulich zwischen den putzigen Kätzchen und der tüchtigen Mizi. Machte sie selbst nicht oft ein verdrossenes Gesicht, wenn sie nur abends ihre Spielsachen aufräumen sollte? Nein, das wollte sie aber von nun an nicht mehr tun, sie wollte immer an die fleißige Himbeermizi denken. Da unterbrach diese Nesthäkchens gute Vornahmen.
»Welches Katzerl magst? Ein weißes oder halt das schwarze Katerle?«
Ach, wer die Wahl hat, hat die Qual! Die Wahrheit dieses Sprichwortes empfand Klein-Annemarie zum erstenmal in ihrem siebenjährigen Leben. Am süßesten erschienen ihr eigentlich die schneeweißen Kätzchen, pflaumenweich waren die. Als Annemarie zaghaft eins auf den Arm nahm, ließ es ein ängstliches »Mi« ertönen. Das hörte sich gerade so an, als ob ein kleines Kind weinte. Die graue hatte so schöne, grüne Augen, wie aus Glas sahen die aus, und die gefleckte war die munterste von allen. Die spielte am niedlichsten und ohrfeigte die anderen am drolligsten. Aber den süßen, kleinen, schwarzen Kater hätte sie auch zu gern gehabt, der sah so entzückend frech aus.
»Ich möchte am liebsten alle fünf!« entschied Klein-Annemarie schließlich mit einem tiefen Seufzer.
»Alle geb’ ich sie aber nicht her, meine Tierle.« Schützend breitete Mizi ihre kleinen Ärmchen über die Katzenfamilie.
Fräulein lachte: »Ei, Annemie, denke einmal, was Mutti wohl für ein Gesicht machen möchte, wenn du ihr die Einquartierung bringst. Und Frau Meergans würde uns am Ende die Wohnung kündigen. Ich denke, du wählst eins von den weißen Kätzchen. Davon hat die Mizi zwei und wird es daher leichter entbehren.«
Annemarie war einverstanden. Denn das kleine Kätzchen, das sich immer noch so warm in ihren Arm einkuschelte, hatte bereits ihr ganzes zärtliches Herzchen gewonnen.
»Vielleicht borgt uns die Mizi ein Körbchen, daß wir das Kätzchen besser heimtransportieren können«, schlug Fräulein noch vor.
»Freilich, ich hol’ meine Schultasch’.« Bereitwilligst sprang Mizi in den Nebenraum.
Nesthäkchen machte ein verdutztes Gesicht. Was – in die Schulmappe wollte Mizi die Katze packen? Das war ja ulkig.
Da kam die Kleine auch schon