Gesammelte Werke von Cicero. Марк Туллий Цицерон
Der Anklage vierter Teil. Von den Kunstwerken
Der Anklage fünfter Teil. Die Mordrede
Antike und moderne Namen sicilischer und unteritalischer Orte
Einleitung
Die Reden, welche Marcus Tullius Cicero im Jahre 70 vor unserer Zeitrechnung in Rom gegen Gaius Verres hielt, entstammen seiner mittleren Periode. Er war noch nicht der gefeierte, über alle Rivalen weit erhabene Klassiker des Stiles und der Form, als welchen ihn späterhin – zum Teil auf Grund dieser Reden – alle bewunderten, aber er war auch seit langem nicht mehr der Anfänger, der sich seine Stellung im Staat und auf dem Forum erst erkämpfen mußte. Er war damals 36 Jahre alt; die Advokatenpraxis ging glatt, die jugendliche Abhängigkeit von den rhetorischen Mustern der Mode war bereits glücklich überwunden, und politisch hatte der arbeitsame Süditaliker bereits ein »kurulisches« Amt bekleidet, d. h. die Mitgliedschaft im römischen Senat errungen, so daß er sich eben mit Erfolg um ein noch höheres, wertvolleres Amt bewerben durfte. Für ihn, wie für jeden echten römischen Vollbürger, gab es kein Stehenbleiben, Stillstand wäre Rückschritt gewesen; um aber vorwärts zu kommen, genügte es damals nicht, den Ochsenweg zu beschreiten und im gleichmäßigen Tempo ruhig zuschauend den Ereignissen zu folgen, sondern es hieß in die Ereignisse eingreifen, sich lancieren, wo man kann, frisch zupacken, jede Gelegenheit beim Schopfe fassen. Eine solche Gelegenheit bot Cicero die Klage der vereinigten Gemeinden von Sicilien gegen ihren jüngst abgetretenen Landvogt, den von der römischen Reichsregierung als Statthalter eingesetzten Prätor Verres.
Über Verres' Leben wissen wir fast nur, was Cicero in den vorliegenden Reden erzählt. Nun ist zwar ein Ankläger kein Richter, noch weniger ein Biograph, am wenigsten im alten Rom, wo durch die Praxis den Gerichtsrednern die Übertreibung, die einseitige Schilderung zum Gesetze gemacht, die Lüge methodisch erlaubt war; allein man beschäftigte sich im Altertum und zwar sofort vom Erscheinen dieser Reden an so lebhaft mit ihrem Objekte, und die Übereinstimmung der antiken Autoren ist so vollständig, daß man diesmal in allen wesentlichen Punkten dem Cicero Glauben schenken darf. Verres war tatsächlich ein gemeines Subjekt, wie die meisten Stadtrömer seiner Zeit; durch adlige Abkunft, gewöhnliche Streberei, politischen Gesinnungswechsel und namentlich als Scherge Sullas, der ihn zu den niedrigsten Exekutordiensten verwendete, fing er an Carriere zu machen. Das weitere besorgte die echt römische »Camorra«, die Clique seiner Standesgenossen, daneben die nach unseren Begriffen rein orientalische Beamtenwirtschaft, die damals im Reiche Platz gegriffen hatte und bestehen blieb, bis Caesars gewaltige Faust den Augiasstall reinigte: fast jeder Beamte preßte seinen Amtsbefohlenen aus soviel er irgend konnte, um sich mit dem Ertrage durch Bestechung des Wahlpöbels ein höheres Amt zu kaufen. So hatte es Verres trotz der unglaublichsten Verbrechen und gänzlicher politischer Unfähigkeit bis zum Prätor, also zum Gerichtspräsidenten in Rom, gebracht – seine Befugnisse und seine Thätigkeit setzt Cicero so klar auseinander, daß man auf die Reden selbst verweisen darf – als ihn die Nemesis ereilte. Drei Jahre hatte er sich in Sicilien gütlich gethan, da war seine Amtszeit um; erst jetzt durften die Überlebenden unter seinen Opfern gerichtlich gegen ihn vorgehen und zwar nur in Rom durch Vermittelung eines Römers. Mit echt sicilianischer Intelligenz wandten sie sich zu diesem Zweck an Cicero, den schon damals Hervorragendsten unter den Rednern der politischen Oppositionspartei; der bis dahin berühmteste Rechtsanwalt in Rom, Quintus Hortensius, gehörte der durch Sullas Gesetze allmächtig gewordenen Optimatenpartei an und wäre gegen ein Mitglied der Camorra so wenig zu gewinnen gewesen, wie etwa heutzutage Zanardelli gegen Crispi.
Die Aufgabe für Cicero war schwer. Für uns scheint dies auf den ersten Blick kaum begreiflich; wer die lange Reihe von Verres' Verbrechen übersieht, wird das Thema höchst einfach finden. Verres hatte gestohlen, geraubt, betrogen, unterschlagen, gemordet, hatte Hochverrat und eine Menge anderer Dinge begangen, die durch bestimmte Gesetze verboten waren und geahndet werden mußten; folglich war er strafbar. Aber praktisch lagen die Verhältnisse anders. Schon in einem modernen Staat, in dem der allgemeine moralische Sinn auf niedriger Stufe steht, würde jene Konsequenz nicht gezogen werden; tatsächlich sehen wir z. B. in England noch heute Verbrecher vom Schlage des Verres straflos ausgehen, obgleich ihre Schuld nicht nur erwiesen, sondern auch eingestanden ist. Vollends in den letzten Dezennien der verfallenden römischen Republik ging es beim Urteil über menschliche Existenzen nie nach dem Rechte, sondern nur nach den persönlichen Einflüssen, und die waren nicht gerade auf Ciceros Seite. Die Richter mußten seit Einführung der Sullanischen Gesetze nicht mehr dem »Ritterstande«, d. h. der gut bürgerlichen haute finance, sondern dem »Senatorenstande«, d. h. der allmächtigen aristokratischen Clique, entnommen werden; und wenn auch der Kläger wie der Beklagte das Recht hatte, eine bestimmte Anzahl von Geschworenen zu verwerfen, an deren Stelle dann andere durchs Los gesetzt wurden, so waren doch die Chancen für den »Optimaten« Verres erheblich günstiger als für den »Emporkömmling« Cicero. Dieser mußte also den Einfluß, den er an Verbindungen nicht besaß, durch persönliche Eigenschaften zu gewinnen suchen, und dazu half ihm nichts so sehr wie die Beredsamkeit.
Seine Aufgabe war nicht nur eine zwingende und elegante Beweisführung nebst durchgreifendem Kampfe gegen den feindlichen Anwalt, sondern der Angeklagte mußte rein zerschmettert, und in den Richtern mußte das Bewußtsein erweckt werden: »wir müssen ihn verurteilen, es bleibt uns nichts anderes übrig, tausend Gründe zwingen uns dazu, von denen jeder einzelne allein schon ausreichen würde.« So mußte der Redner auf die Richter persönlich und sachlich einwirken, und dazu gehörte viel mehr als eine geschickte Verarbeitung des gesammelten Materiales und ein glänzender Vortrag. Es handelte sich darum, dem Gegner jeden irgend möglichen Einwand vorweg zu nehmen, ihn an jeder Bewegung zu verhindern, den Vorteil, den der Angreifer als solcher überall besitzt, voll auszunutzen: blieb auch nur ein Hinterpförtchen offen, so war Gefahr im Verzuge.
Cicero mußte den Geschworenen für den Fall der Freisprechung drohen; und da kam es ihm denn sehr gelegen, daß die Oppositionspartei damals für die Übertragung der Gerichte an den Ritterstand agitierte – der Hinweis auf diese Agitation, die noch in demselben Jahre zum Ziele gelangen sollte, kehrt von Zeit zu Zeit wie ein Refrain in seinen Reden wieder. Eine Hauptsache aber war die Erregung der Leidenschaften; der Redner mußte die Geschworenen wie das zuhörende Volk in eine Wut gegen den Angeklagten versetzen, die stärker wirkte als alle Verstandesgründe. Er mußte auf seine Hörer fascinierend, begeisternd, rührend wirken wie heutzutage ein Musiker. In seinen theoretischen Schriften spricht Cicero viel über dies Motiv und über die Mittel, es ins Werk zu setzen; Hauptsache ist natürlich die Begabung, aber in hohem Grade kam es auch auf rechte Disposition des Stoffes und Wahl des geeigneten Momentes an. »Setzt nach den nötigen Vorbereitungen im geeigneten Augenblick eine mächtige Leidenschaft ein,« sagt Cicero, »so wirkt sie vernichtend, furchtbar, unwiderstehlich,« und er citiert als Beispiel seinen Kampf gegen Verres. Einen sonst hochachtbaren Redner tadelt er wegen seines Mangels an Beweglichkeit: »nicht einmal daß er mit dem Fuß aufstampfte!« – Man sieht, daß auch die Erregung der Leidenschaften durch Theorien gelenkt wurde; die ausdrückliche Versicherung Ciceros, daß er seine im Kampfe wirksame Passion nicht heuchele, sondern wirklich empfinde, darf man wohl dahin verstehen, daß er an sich glaubte, daß er sich wirklich in die Illusion hineinredete, als wäre er so gerührt, so wütend u. dgl. wie er seinen Hörern scheinen wollte, um in ihnen die gleichen Empfindungen zu erwecken. Von einer wirklichen Hingerissenheit im Schmerze kann natürlich keine Rede sein; es wäre das schlimmste Zeichen für einen Redner, wenn er die Herrschaft über sich selbst verlöre, denn damit hätte er sofort auch die Herrschaft über die Zuhörer verloren; vielmehr kannte Cicero das Gesetz sehr gut, das ein Späterer in die Worte zusammenfaßte, »man darf nicht zu aufgeregt sein, wenn man andere aufregen will,« und hierin spricht sich so recht der schauspielerische Charakter der antiken Beredsamkeit aus, die deshalb eine so hohe