Gesammelte Werke von Cicero. Марк Туллий Цицерон
dazu hingerissen wird, ohne dass irgend ein Vortheil sie dazu bestimmt. Man sieht ja, dass schon die Knaben sich nicht einmal durch Schläge von der Betrachtung und Untersuchung der Dinge abschrecken lassen und wie sie, fortgejagt, wieder zurückkommen; wie sie sich freuen, dass sie etwas wissen, wie sie danach verlangen, Andern etwas zu erzählen; wie die öffentlichen Aufzüge, die Schauspiele und andere ähnliche Darstellungen sie so fesseln, dass sie Hunger und Durst ertragen. Ja, sieht man nicht, dass Männer, welche an den freien Wissenschaften und Künsten sich ergötzen, weder ihre Gesundheit noch ihr Vermögen dabei schonen und in die Wissenschaften und ihre Erlangung so vertieft sind, dass sie darum Alles ertragen und die schwersten Sorgen und Mühen durch die Lust ausgleichen, welche ihnen die Erweiterung ihrer Kenntnisse gewährt. (§ 49.) Ich möchte glauben, dass Homer dergleichen im Sinne gehabt hat, wo er von den Gesängen der Sirenen erzählt. Sie pflegten die Vorüberfahrenden nicht durch ihre süssen Stimmen oder durch eine neue und wechselnde Weise des Gesanges an sich zu ziehen, sondern sie sprachen von ihrem reichen Wissen, damit die Menschen in Folge ihrer Wissbegierde an deren Felsen haften blieben. Denn in dieser Weise laden sie den Odysseus zu sich ein; (ich habe die Stelle, wie manche andere des Homer übersetzt):
O Zierde von Argos, wende, Odysseus, Dein Schiff zu uns,
Damit Du mit Deinen Ohren unsere Gesänge vernehmest.
Noch ist Keiner im dunklen Schiff hier vorübergesegelt,
Der nicht, gefesselt von der Stimmen Süsse, hier gehalten hätte;
Und der, wenn sein begehrendes Herz an den Musen viel sich ergötzt,
Nicht reicher an Kenntniss zur väterlichen Küste gekehrt.
Wir kennen den schweren Kampf und die Niederlage,
Welche Griechenland den Troern unter göttlichem Schutze bereitet;
Alle Spuren der Dinge auf weiter Erde sind uns bekannt.
Homer fühlte, dass seine Dichtung nicht Billigung finden würde, wenn ein so grosser Mann durch blosses Singen sich hätte fesseln lassen; deshalb verheissen sie ihm die Erkenntniss, und es kann nicht auffallen, dass diese dem Wissbegierigen höher stand, als sein Vaterland. Alles ohne Unterschied wissen wollen, ist Neugierde; aber durch die Betrachtung der grossen Dinge zum Verlangen nach der Wissenschaft angeregt zu werden, ist grossen Männern eigen.
Kap. XIX. (§ 50.) Welcher Wissenseifer muss nicht den Archimedes beseelt haben, der über die aufmerksame Verzeichnung seiner Figuren im Sande nicht merkte, dass seine Vaterstadt erobert worden war. Wie hat das grosse Genie des Aristoxenus sich ganz in dir Musik vertieft! Mit welchem Eifer hat Aristophanes sein Leben in den Wissenschaften zugebracht! Was soll ich von Pythagoras, von Plato und Demokrit sagen, die aus Wissbegierde die entferntesten Länder durchwandert haben! Wer dies nicht einsieht, hat nie mit Liebe sich dem Wissenswerthen hingegeben. Wenn man hier meint, dergleichen Beschäftigungen seien nur der geistigen Lust wegen betrieben worden, so bemerkt mau nicht, dass sie gerade deshalb um ihrer selbst willen aufgesucht werden, weil der Geist sich in ihnen, auch wenn kein Nutzen vorliegt, ergötzt und sich an dem Wissen, selbst wenn es beschwerlich wird, erfreut. (§ 51.) Doch wozu in so klaren Dingen noch Weiteres beibringen. Wir mögen uns immer selbst fragen, wie sehr der Lauf der Gestirne, die Betrachtung der Himmelskörper und die Erkenntniss Alles dessen, was die Natur in Dunkelheit gehüllt hat, uns bewegt, und wie sehr uns die Geschichte ergötzt, bei der man bis zu den ersten Anfängen vordringt, Uebersehenes nachholt und Angefangenes weiter verfolgt. Ich weiss recht wohl, dass die Geschichte nicht blos Lust, sondern auch Nutzen gewährt; aber liest man denn nicht auch erdichtete Geschichten mit Vergnügen, bei denen sich gar kein Nutzen absehen lässt? (§ 52.) Und will man nicht bei Männern, die Grosses verrichtet haben, ihre Namen kennen, ihre Eltern, ihr Vaterland und Anderes, was gar nicht nothwendig ist? Und ergötzen sich nicht die ärmsten Leute, ohne Aussicht, selbst etwas unternehmen zu können, ja selbst Handarbeiter an der Geschichte? Gerade Männer, die bereits vom Alter gebeugt und von allen Geschäften bereits ausgeschlossen sind, zeigen sich am meisten bereit, von geschichtlichen Thaten zu hören und zu lesen. Man muss deshalb anerkennen, dass in den Gegenständen selbst, die man erfährt und lernt, der Reiz liegt, der uns zu ihrer Erlernung und Erkenntniss anlockt. (§ 53.) Auch schildern die alten Philosophen das künftige Leben der Weisen auf den Inseln der Seligen in der Art, dass sie frei von allen Sorgen und ohne dass sie um ihren Lebensunterhalt sich zu mühen brauchen, ihre ganze Zeit zur Erforschung und Erkenntniss der Natur verwenden. Diese Beschäftigung zeigt sich indess nicht blos als ein Genuss im glücklichen Leben, sondern auch als eine Erleichterung des Druckes in schweren Zeiten. Deshalb vermochten Viele, die in die Gewalt von Feinden oder Tyrannen gerathen waren, oder in der Verbannung oder Gefangenschaft sich befanden, ihren Schmerz durch wissenschaftliche Forschungen zu mildern. (§ 54.) So begab sich Demetrius aus Phalerus, der Erste in seinem Staate, als er mit Unrecht aus seinem Vaterlande vertrieben worden war, zum König Ptolemäus nach Alexandrien. Dort verfasste er, da er in der Philosophie, zu welcher wir Dich ermahnen, sich auszeichnete und bei Theophrast gehört hatte, viele vortreffliche Schriften wahrend dieser traurigen Musse; nicht um daraus einen Vortheil zu ziehen, dessen er etwa bedurft hätte, sondern weil diese Pflege des Geistes ihm gleichsam die Nahrung der Menschheit war. Auch habe ich es oft gehört, wie Ch. Anfidius, der gewesene Prätor, ein gelehrter, aber erblindeter Mann, sagte, er sehne sich nur nach dem Lichte und nicht nach den Vortheilen, die es ihm bringen könnte. Auch würde man den Schlaf für eine unnatürliche Einrichtung halten, weil er alle Sinneswahrnehmung und Thätigkeit aufhebt, wenn er nicht dem Körper Ruhe gewährte und gleichsam ein Stärkungsmittel für die Arbeit wäre. Verlangte daher die Natur keine Erholung oder könnte ihr diese auf andere Art gewahrt werden, so wurde mau gern den Schlaf entbehren, denn schon jetzt durchwacht man da die Nächte beinah gegen die Natur, wo es darauf ankommt, etwas auszuführen oder zu lernen.
Kap. XX. (§ 55.) Indess zeigt die Natur noch deutlicher, klarer und in unzweifelhafter Weise, dass der Geist nicht blos bei dem Menschen, sondern bei jedem lebenden Wesen immer nach einer Thätigkeit verlangt und unter keiner Bedingung eine ewige Ruhe ertragen mag. Man kann das leicht an den Kindern in ihrer frühsten Zeit bemerken. Ich fürchte beinah, dass ich dieses Verhältniss zu oft benutze; indess haben alle Philosophen, namentlich bei uns, sich zu den Wiegen der Kinder gewendet, weil sie meinten, dass man am Kindesalter die Absichten der Natur am leichtesten erkennen könne. Und so sieht mau, dass nicht einmal die stammelnden Kinder sich ruhig verhalten können; sind sie aber herangewachsen, so ergötzen sie sich an kleinen, selbst mühsamen Spielen und lassen sich auch durch Schläge nicht davon abbringen. Dieser Thätigkeitstrieb steigt mit den Jahren, so dass wir, selbst wenn uns die süssesten Träume versprochen würden, doch den Schlaf des Endymion nicht haben möchten, und wenn er einträte, ihn als den Tod selbst ansehen würden. (§ 56.) Sogar die trägsten Menschen, die in der höchsten Faulheit leben, bewegen sich doch immer körperlich und geistig, und wenn nichts Dringendes sie hindert, verlangen sie entweder nach dem Brettspiel oder nach einem andern Spiel, oder suchen nach Unterhaltung. Da ihnen die edlern Genüsse aus den Wissenschaften abgehn, so suchen sie Spielereien und das Gespräch mit Bekannten auf. Selbst die Thiere, die man zu seinem Vergnügen in Käfigen hält, bleiben, obgleich sie reichlicher als in ihrem freien Zustande genährt werden, nur ungern darin und verlangen nach jenen heftigen und wilden Bewegungen, welche dir Natur ihnen eingepflanzt hat. (§ 57.) So zeigt sich, dass alle Menschen von guter Natur und Erziehung nicht einmal leben mögen, wenn man ihnen die Beschäftigung entzieht, selbst wenn dabei jede Lust ihnen offen stände. Entweder wollen sie ihre besondern Geschäfte treiben oder, sind sie mehr befähigt, so wenden sie sich den Staatsgeschäften ZU und verlangen nach Ehren und Aemtern, oder sie widmen sich ganz den Wissenschaften, obgleich bei solcher Lebensweise nicht die Lust es ist, die sie suchen, sondern Unruhe, Sorgen und Nachtwachen von ihnen ertragen werden müssen. Nur in dem besten Theile des Menschen, der als der göttliche in uns gelten muss, in der Schärfe ihres Geistes und Verstandes finden solche Männer Genuss und verlangen weder nach Lust, noch fliehen sie die Arbeit. Sie vertiefen sich bald in die Bewunderung der von den Alten bereits entdeckten Dinge, bald in die Erforschung neuer. Unerschütterlich in diesen Beschäftigungen, vergessen sie alles Andere; nichts ist ihnen zu gering und zu verächtlich, und die Macht, welche solche Beschäftigung auf sie ausübt, ist so gross, dass wir sehen, wie selbst Männer, die das höchste Gut anders aufgefasst und