Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg

Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band) - Rosa Luxemburg


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aktive Klassengefühl des Proletariats auch in Rußland nach dem Abschluß der Revolutionsperiode und nach der Herstellung eines bürgerlich-parlamentarischen Rechtsstaates bedeutend schwinden oder vielmehr in ein verborgenes, latentes umschlagen. Ebenso sicher wird aber umgekehrt in Deutschland in einer Periode kräftiger politischer Aktionen das lebendige, aktionsfähige revolutionäre Klassengefühl die breitesten und tiefsten Schichten des Proletariats ergreifen und zwar umso rascher und umso mächtiger, je gewaltiger das bis dahin geleistete Erziehungswerk der Sozialdemokratie ist. Dieses Erziehungswerk sowie die aufreizende und revolutionierende Wirkung der gesamten gegenwärtigen deutschen Politik wird sich darin äußern, dß der Fahne der Sozialdemokratie in einer ernsten revolutionären Periode alle jene Scharen plötzlich Folge leisten werden, die jetzt in scheinbarer politischer Stupidität gegen alle Organisierungsversuche der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften unempfindlich sind. Sechs Monate einer revolutionären Periode werden an der Schulung dieser jetzt unorganisierten Massen das Werk vollenden, das zehn Jahre Volksversammlungen und Flugblattverteilungen nicht fertig zu bringen vermögen. Und wenn die Verhältnisse in Deutschland für eine solche Periode den Reifegrad erreicht haben, werden im Kampfe die heute unorganisierten zurückgebliebensten Schichten naturgemäß das radikalste, das ungestümste, nicht das mitgeschleppte Element bilden. Wird es in Deutschland zu Massenstreiks kommen, so werden fast sicher nicht die bestorganisierten – gewiß nicht die Buchdrucker – sondern die schlechter oder gar nicht organisierten, die Bergarbeiter, die Textilarbeiter, vielleicht gar die Landarbeiter die größte Aktionsfähigkeit entwickeln.

      Auf diese Weise gelangen wir aber auch in Deutschland zu denselben Schlüssen in bezug auf die eigentlichen Aufgaben der Leitung, auf die Rolle der Sozialdemokratie gegenüber den Massenstreiks, wie bei der Analyse der russischen Vorgänge. Verlassen wir nämlich das pedantische Schema eines künstlich von Partei und Gewerkschafts wegen kommandierten demonstrativen Massenstreiks der organisierten Minderheit, und wenden wir uns dem lebendigen Bilde einer aus äußerster Zuspitzung der Klassengegensätze und der politischen Situation mit elementarer Kraft entstehenden wirklichen Volksbewegung zu, die sich sowohl in politischen wie in ökonomischen stürmischen Massenkämpfen, Massenstreiks entladet, so muß offenbar die Aufgabe der Sozialdemokratie nicht in der technischen Vorbereitung und Leitung des Massenstreiks, sondern vor allem in der politischen Führung der ganzen Bewegung bestehen.

      Die Sozialdemokratie ist die aufgeklärteste, klassenbewußteste Vorhut des Proletariats. Sie kann und darf nicht mit verschränkten Armen fatalistisch auf den Eintritt der »revolutionären Situation« warten, darauf warten, dß jene spontane Volksbewegung vom Himmel fällt. Im Gegenteil, sie muß, wie immer, der Entwicklung der Dinge vorauseilen, sie zu beschleunigen suchen. Dies vermag sie aber nicht dadurch, dß sie zur rechten und unrechten Zeit ins Blaue hinein plötzlich die »Losung« zu einem Massenstreik ausgibt, sondern vor allem dadurch, dß sie den breitesten proletarischen Schichten den unvermeidlichen Eintritt dieser revolutionären Periode, die dazu führenden inneren sozialen Momente und die politischen Konsequenzen klar macht. Sollen breiteste proletarische Schichten für eine politische Massenaktion der Sozialdemokratie gewonnen werden und soll umgekehrt die Sozialdemokratie bei einer Massenbewegung die wirkliche Leitung ergreifen und behalten, der ganzen Bewegung im politischen Sinne Herr werden, dann muß sie mit voller Klarheit, Konsequenz und Entschlossenheit die Taktik, die Ziele dem deutschen Proletariat in der Periode der kommenden Kämpfe zu stecken wissen.

       Inhaltsverzeichnis

      Wir haben gesehen, dß der Massenstreik in Rußland nicht ein künstliches Produkt einer absichtlichen Taktik der Sozialdemokratie, sondern eine natürliche geschichtliche Erscheinung auf dem Boden der jetzigen Revolution darstellt. Welche sind nun die Momente, die in Rußland diese neue Erscheinungsform der Revolution hervorgebracht haben?

      Die russische Revolution hat zur nächsten Aufgabe die Beseitigung des Absolutismus und die Herstellung eines modernen bürgerlich-parlamentarischen Rechtsstaates. Formell ist es genau dieselbe Aufgabe, die in Deutschland der Märzrevolution, in Frankreich der großen Revolution am Ausgang des 18. Jahrhunderts bevorstand. Allein die Verhältnisse, das geschichtliche Milieu, in dem diese formell analogen Revolutionen stattfanden, sind grundverschieden von den heutigen Rußlands. Das Entscheidende ist der Umstand, dß zwischen jenen bürgerlichen Revolutionen des Westens und der heutigen bürgerlichen Revolution im Osten der ganze Cyklus der kapitalistischen Entwicklung abgelaufen ist. Und zwar hatte diese Entwicklung nicht bloß die westeuropäischen Länder, sondern auch das absolutistische Rußland ergriffen. Die Großindustrie mit allen ihren Konsequenzen, der modernen Klassenscheidung, den schroffen sozialen Kontrasten, dem modernen Großstadtleben und dem modernen Proletariat, ist in Rußland die herrschende, d. h. in der sozialen Entwicklung ausschlaggebende Produktionsform geworden. Daraus hat sich aber die merkwürdige, widerspruchsvolle, geschichtliche Situation ergeben, dß die nach ihren formellen Aufgaben bürgerliche Revolution in erster Reihe von einem modernen klassenbewußten Proletariat ausgeführt wird, und in einem internationalen Milieu, das im Zeichen des Verfalls der bürgerlichen Demokratie steht. Nicht die Bourgeoisie ist jetzt das führende revolutionäre Element, wie in den früheren Revolutionen des Westens, während die proletarische Masse, aufgelöst im Kleinbürgertum, der Bourgeoisie Heerbanndienste leistet, sondern umgekehrt, das klassenbewußte Proletariat ist das führende und treibende Element, während die großbürgerlichen Schichten teils direkt kontrerevolutionär, teils schwächlich-liberal, und nur das ländliche Kleinbürgertum nebst der städtischen kleinbürgerlichen Intelligenz entschieden oppositionell, ja revolutionär gesinnt sind. Das russische Proletariat aber, das dermßen zur führenden Rolle in der bürgerlichen Revolution bestimmt ist, tritt selbst frei von allen Illusionen der bürgerlichen Demokratie, dafür mit einem stark entwickelten Bewußtsein der eigenen spezifischen Klasseninteressen, bei einem scharf zugespitzten Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, in den Kampf. Dieses widerspruchsvolle Verhältnis findet seinen Ausdruck in der Tatsache, dß in dieser formell bürgerlichen Revolution der Gegensatz der bürgerlichen Gesellschaft zum Absolutismus von dem Gegensatz des Proletariats zur bürgerlichen Gesellschaft beherrscht wird, dß der Kampf des Proletariats sich mit gleicher Kraft gleichzeitig gegen den Absolutismus und gegen die kapitalistische Ausbeutung richtet, dß das Programm der revolutionären Kämpfe mit gleichem Nachdruck auf die politische Freiheit und auf die Eroberung des Achtstundentages sowie einer menschenwürdigen materiellen Existenz für das Proletariat gerichtet ist. Dieser zwiespältige Charakter der russischen Revolution äußert sich in jener innigen Verbindung und Wechselwirkung des ökonomischen mit dem politischen Kampf, die wir an der Hand der Vorgänge in Rußland kennen gelernt haben, und die ihren entsprechenden Ausdruck eben im Massenstreik findet.

      In den früheren bürgerlichen Revolutionen, wo einerseits die politische Schulung und Anführung der revolutionären Masse von den bürgerlichen Parteien besorgt wurde und wo es sich anderseits um den nackten Sturz der alten Regierung handelte, war die kurze Barrikadenschlacht die passende Form des revolutionären Kampfes. Heute, wo die Arbeiterklasse sich selbst im Laufe des revolutionären Kampfes aufklären, selbst sammeln und selbst anführen muß, und wo die Revolution ihrerseits ebenso gegen die alte Staatsgewalt wie gegen die kapitalistische Ausbeutung gerichtet ist, erscheint der Massenstreik als das natürliche Mittel, die breitesten proletarischen Schichten in der Aktion selbst zu rekrutieren, zu revolutionieren und zu organisieren, ebenso wie es gleichzeitig ein Mittel ist, die alte Staatsgewalt zu unterminieren und zu stürzen und die kapitalistische Ausbeutung einzudämmen. Das städtische Industrieproletariat ist jetzt die Seele der Revolution in Rußland. Um aber irgend eine direkte politische Aktion als Masse auszuführen, muß sich das Proletariat erst zur Masse wieder sammeln und zu diesem Behufe muß es vor allem aus Fabriken und Werkstätten, aus Schächten und Hütten heraustreten, muß es die Pulverisierung und Zerbröckelung in den Einzelwerkstätten überwinden, zu der es im täglichen Joch des Kapitals verurteilt ist. Der Massenstreik ist somit die erste natürliche, impulsive Form jeder großen revolutionären Aktion des Proletariats, und je mehr die Industrie die vorherrschende Form der sozialen Wirtschaft, je hervorragender die Rolle des Proletariats in der Revolution und je entwickelter der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital,


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