Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg

Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band) - Rosa Luxemburg


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Inhaltsverzeichnis

      Seit in unserem ganzen Land – ebenso wie in Rußland – die Arbeiter den unermüdlichen Kampf mit der zaristischen Regierung und den kapitalistischen Ausbeutern aufgenommen haben, hören wir immer häufiger, daß Priester in ihren Predigten gegen die kämpfenden Arbeiter auftreten. Besonders scharf wendet sich unsere Geistlichkeit gegen die Sozialisten, wobei sie sich mit allen Kräften bemüht, sie in den Augen der Arbeiter zu verunglimpfen. Immer häufiger geschieht es jetzt, daß gläubige Menschen, die an Sonn- und Feiertagen in die Kirche gehen, um Predigten zu hören und religiösen Trost zu finden, statt dessen eine scharfe, manchmal heftige Rede über Politik, über Sozialisten anhören müssen. Statt die durch ihr schweres Leben bekümmerten und verarmten Menschen, die gläubig zur Kirche kommen, zu stärken, wettern die Priester gegen die streikenden oder gegen die Regierung kämpfenden Arbeiter, reden ihnen zu, Not und Unterdrückung demütig und geduldig zu ertragen, und machen überhaupt aus Kirche und Kanzel einen Ort politischer Agitation. Jeder Arbeiter muß aus eigener Erfahrung zugeben, daß dieses kämpferische Auftreten der Geistlichkeit gegen die Sozialdemokraten ihrerseits durch nichts hervorgerufen wurde. Die Sozialdemokraten haben niemals den Kampf mit Kirche oder Geistlichkeit gesucht. Die Sozialdemokraten bemühen sich, die Arbeiter zum Kampf gegen das Kapital zu mobilisieren und zu organisieren, das heißt zum Kampf gegen die Ausbeutung der Unternehmer, die ihnen das Blut aussaugen, zum Kampf gegen die zaristische Regierung, die dem Volk auf Schritt und Tritt die Kehle zuschnürt, aber niemals ermuntern die Sozialdemokraten die Arbeiter zum Kampf gegen die Geistlichkeit und niemals versuchen sie, ihnen den religiösen Glauben zu nehmen. Im Gegenteil! Die Sozialdemokraten halten sich bei uns wie auf der ganzen Welt an den Grundsatz, daß Gewissen und Überzeugung des Menschen heilig und unantastbar sind. Jedem steht es frei, den Glauben und die Überzeugung zu haben, die ihn glücklich machen. Niemand darf die religiösen Überzeugungen der Menschen verfolgen oder beleidigen. So sagen die Sozialdemokraten. Und deshalb rufen sie auch unter anderem das ganze Volk zum Kampf gegen die zaristische Regierung auf, die das Gewissen der Menschen vergewaltigt und Katholiken, Unierte, Juden, Ketzer und Konfessionslose verfolgt.

      So verteidigen gerade die Sozialdemokraten leidenschaftlich die Gewissensfreiheit und das Bekenntnis eines jeden Menschen. Und deshalb würde man meinen, die Geistlichkeit müsse die Sozialdemokraten fördern und begünstigen, da sie dem arbeitenden Volk Bildung bringen.

      Aber damit nicht genug. Wenn wir uns überlegen, wonach die Sozialdemokraten überhaupt streben, und welche Lehren sie der Arbeiterklasse verkünden, so wird der Haß der Geistlichkeit gegen sie immer weniger verständlich.

      Die Sozialdemokraten streben danach, die Herrschaft der reichen Schinder und Ausbeuter über das arme arbeitende Volk abzuschaffen. Aber dabei, so sollte man meinen, müßten die Diener der christlichen Kirche als erste die Sozialdemokraten unterstützen und ihnen die Hand reichen, denn die Lehre Christi, deren Diener die Priester sind, sagt doch, daß eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als daß ein Reicher in den Himmel kommt!

      Die Sozialdemokraten streben danach, in allen Ländern eine gesellschaftliche Ordnung einzuführen, die sich auf Gleichheit aller Menschen, auf Freiheit und Brüderlichkeit gründet. Aber auch hierin müßte die Geistlichkeit mit Freuden die Agitation der Sozialdemokraten begrüßen, wenn sie aufrichtig dafür wäre, daß der christliche Grundsatz: „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, im Leben der Menschheit angewendet würde.

      Die Sozialdemokraten bemühen sich in unermüdlichem Kampf, das Arbeitervolk durch Bildung und Organisation aus Erniedrigung und Not emporzuheben, ihm ein besseres Leben und seinen Kindern eine bessere Zukunft zu sichern. Auch dafür – das muß jeder zugeben – müßten die Priester die Sozialdemokraten nur segnen, da doch Christus, dessen Diener die Priester sind, gesagt hat: „Was ihr diesen Geringsten tut, das tut ihr mir.“ Statt dessen sehen wir aber, daß die Geistlichkeit die Sozialdemokraten exkommuniziert und verfolgt und den Arbeitern zuredet, ihr Los geduldig zu ertragen, das heißt sich geduldig von den Reichen – den Kapitalisten – ausbeuten zu lassen. Die Geistlichkeit wettert gegen die Sozialdemokraten und redet den Arbeitern zu, sich nicht gegen die Regierungsgewalt „zu erheben“, das heißt geduldig die Unterdrückung einer Regierung zu ertragen, die wehrlose Menschen ermordet, die das Volk zu Hunderttausenden in den Krieg, also in ein entsetzliches Blutbad schickt, die Katholiken, Unierte und Altgläubige um ihres Glaubens und Bekenntnisses willen verfolgt.

      So steht die Geistlichkeit, wenn sie die Reichen, wenn sie Ausbeutung und Unterdrückung verteidigt, im ausdrücklichen Gegensatz zur christlichen Lehre. Bischöfe und Priester treten nicht als Kaplane der Lehre Christi auf, sondern als Kaplane des goldenen Kalbes und der Knute, die Arme und Wehrlose geißelt. Außerdem weiß jeder aus Erfahrung, wie oft die Priester selbst das arme arbeitende Volk quälen, indem sie für Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen dem Arbeiter manchmal den letzten Groschen abnehmen. Und wie oft ist es vorgekommen, daß ein Priester, der zu einer Beerdigung gerufen wurde, erklärte, er rühre sich nicht aus dem Haus, wenn man nicht im voraus soundsoviel Rubel auf den Tisch lege, und der Arbeiter mit Verzweiflung im Herzen davonging, schnell das letzte Möbel aus der Stube verkaufen oder verpfänden mußte, um religiösen Trost für seine Liebsten zu erkaufen!

      Es gibt allerdings auch andere Geistliche. Es gibt auch solche, die voll Güte und Mitleid nicht auf den Verdienst schauen und bereit sind, selbst zu helfen, wo sie Not sehen. Aber jeder gibt zu, daß das Ausnahmen sind, weiße Raben. Die Mehrzahl der Priester hat ein lächelndes Gesicht und untertänige Verbeugungen für die Reichen und Mächtigen, denen sie jedes Unrecht und jede Ausschweifung schweigend vergibt. Für die Arbeiter jedoch hat die Geistlichkeit meistens nur unerbittliche Schinderei und strenge Predigten gegen ihre „Anmaßung“, wenn sie sich ein wenig vor der unverschämten Ausbeutung der Kapitalisten schützen wollen.

      Dieser ausdrückliche Widerspruch zwischen dem Vorgehen der Geistlichkeit und der christlichen Lehre muß jeden denkenden Arbeiter verwundern, so daß er unwillkürlich fragt: wie kommt es, daß die Arbeiterklasse bei ihrem Streben nach Befreiung in den Dienern der Kirche nicht Freunde, sondern Feinde findet? Wie kommt es, daß die Kirche heute nicht Zuflucht der Ausgebeuteten und Unterdrückten ist, sondern Festung und Schutz des Reichtums und der blutigen Ausbeutung?

      Um diese erstaunliche Erscheinung zu begreifen, muß man zumindest kurz die Geschichte der Kirche kennenlernen und sich ansehen, was sie einmal war und wozu sie dann im Laufe der Zeiten geworden ist.

       Inhaltsverzeichnis

      Einer der schwersten Vorwürfe, den die Geistlichkeit den Sozialdemokraten macht, ist der, daß sie den „Kommunismus“ einführen wollen, das heißt gemeinsames Eigentum aller irdischen Güter. Es wird hier vor allem interessant sein festzustellen, daß die heutigen Priester, wenn sie gegen den „Kommunismus“ wettern, eigentlich gegen die ersten Apostel der Christenheit wettern. Denn gerade sie waren die leidenschaftlichsten Kommunisten.

      Die christliche Religion entstand bekanntlich im alten Rom zur Zeit des größten Verfalls dieses einstmals starken und mächtigen Reiches, das damals das ganze heutige Italien, Spanien, einen Teil Frankreichs, einen Teil der Türkei, Palästina und verschiedene andere Länder umfaßte. Die Verhältnisse, die in Rom zur Zeit der Geburt Christi herrschten, waren den heutigen Verhältnissen in Rußland sehr ähnlich. Einerseits eine Handvoll Reicher, die in Müßiggang unermeßlichen Luxus und Überfluß genossen, andererseits eine riesige Volksmasse, die in entsetzlicher Not zugrunde ging, und über allem eine Regierung von Despoten, die, auf Gewalt und moralische Verkommenheit gestützt, unsagbaren Druck ausübte und das Letzte aus der Bevölkerung herauspreßte; im ganzen Reich Zerrüttung, äußere Feinde, die den Staat von verschiedenen Seiten bedrohten, eine Soldateska, die in wildem Übermut die arme Bevölkerung traktierte, öde und entvölkerte Dörfer mit immer unfruchtbarer werdenden Äckern, die Stadt aber, die Hauptstadt Rom nämlich, überfüllt von abgezehrtem Volk, das voll Haß an den Palästen der Reichen rüttelte, von Volk ohne Brot, ohne Obdach, ohne Kleidung, ohne Hoffnung und Aussicht auf irgendeinen Ausweg aus


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