Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz
über den Strom zu setzen. Ich erreichte Halswigshof, wurde dort aufs freundlichste empfangen.
Das kurländische Gut Halswigshof an der Düna bestand aus einem stattlichen Herrenhaus mit verwirrenden Gängen und Türen und vielen, um einen Park verteilten Nebengebäuden. Der alte Baron lebte nicht mehr. Seine Witwe war eine etwas korpulente, energische und gesellschaftlich ebenso sichere wie umsichtige Dame mit graumeliertem Haar und viel Temperament. Sehr praktisch, sehr fleißig und von einer frauenhaften Güte. Gesund, natürlich und liebenswürdig wie sie war auch die Baronesse, die damals neunzehn Jahre alt sein mochte. Wer sie kannte, der konnte Seebach nur beglückwünschen. Es war zu hoffen, daß sie besonders in bezug aufs Trinken von bestem Einfluß für ihn sein würde. Sie und ihren älteren Bruder, einen langen, schlanken Herrn, hatte ich im Deutschen Theater im Münchner Fasching kennengelernt. Der Bruder war ein raffinierter Lebemann, Landbaron wie Stadtbaron. Er hatte ein wenig Glatze, ein wenig Grau im Haar und sah gut aus.
Jedes Familienmitglied wohnte in einem anderen Haus. Das Gesinde bestand aus lettischen Familien, deren Verhältnis zur Familie Nolcken der Leibeigenschaft sehr nahe kam. Nun war aber Halswigshof nicht nur Baronei und Gut mit großer Landwirtschaft und Viehwirtschaft, sondern auch Sanatorium. Und so wohnten und wechselten dort immer viele zusammengewürfelte, meist russische Familien und Einzelpersonen.
Ich erhielt ein Zimmer im Hause des Gärtners. Der Diener servierte Eier und Heidelbeeren. Zigaretten standen zu Hunderten bereit, echt russische Zigaretten mit kurzem Tabakrohr und langem Pappmundstück. Der schöne Park war übersät mit solchen weggeworfenen Zigarettenresten.
Ich machte dem Baron Nolcken einen Besuch, bekam einen Schnaps »Nolckin« vorgesetzt. Dann gingen wir mit den anderen Nolckens und mit Seebach nach dem Erdbeerpavillon auf den Müffelberg. Obwohl es schon zehn Uhr abends war, leuchtete der Himmel noch in Sonnenglut. Es wurde eine stille Plauderstunde mit Neckereien und Komplimenten um das Liebespaar Ingeborg-Biegemann.
Bis die Baronin ihre Kinder auf die Stirn küßte und sich zurückzog. Auch ich verabschiedete mich, ging auf mein Zimmer, um mein Gepäck auszupacken und Briefe von meinen Eltern zu lesen. Die Gärtnersfamilie schlief bereits. Eine erquickende Ruhe herrschte. Durchs offene Fenster drang schwerer Erdgeruch.
Am andern Morgen frühstückte ich als Nachzügler, weil ich verschlafen hatte. Aber ich konnte tun, was ich wollte. So ging ich an die Düna und bestieg ein Ruderboot. Der Strom war breit und reißend. Große Flöße trieben vorbei mit Strohhütten darauf, und das Holz duftete weithin.
Wie köstlich schmeckte die Freiheit, schmeckten mittags an der großen Tafel Suppe, Schaffleisch und Erdbeeren. Nach Tisch begleitete ich das Brautpaar auf einem Waldspaziergang. Der steife, altersmüde Jagdhund Lord und die freche Terrierhündin Tipsi nahmen daran teil. Hinterher badete ich mit Seebach in der Düna. Ingeborg wollte nicht mittun. Das Wasser war ihr zu reißend und zu schmutzig.
Nach dem Abendessen gingen wir alle nach einer mit Laub geschmückten Scheune. Es war der Tag des Johannisfestes. Das Gesinde huldigte der Baronin. Gruppenweise näherten sich die festlich gekleideten Leute, küßten der Baronin und den Baronen und der Baroneß die Hand und nahmen Geschenke entgegen. Wir alle bekamen Kränze aufgesetzt, die Baronin gleich sechs auf einmal. Dann besangen die Leute in ihrer Sprache die Vorzüge des Nolckenschen Gutes und der Herrschaft im Gegensatz zu anderen Gütern. Und immer kehrte der melancholische, langgezogene Refrain wieder: »Ligo – – Li – – g – o –!«
Danach begann ein tolles Tanzen auf Brettern, die über den Sandboden gelegt waren. Ich wählte mir ein lettisches Schulmädchen, das durch eine Krankheit die Haare verloren hatte, aber einen schönen Kopf und einen sehr anziehenden Trotz besaß. Geige und Ziehharmonika tönten. Ein Faß Bier war aufgelegt.
Ich stahl mich davon. Auf den Feldern brannten Johannisfeuer. Im leuchtenden Orange des Himmels stand ein blasser Mond. Am jenseitigen Ufer der Düna lag ein Boot. Von dort zog traurig über das Wasser das Ligolied.
Der Hunger trieb mich noch spät nach dem Herrenhaus, wo mir die Frau des Verwalters eine Piroge verschaffte.
Zum Nolckenschen Gut gehörten weite Felder, tiefe Laub- und Nadelwälder, Ententeiche, Forellenbäche, ein bunter Garten und leider sehr viel Fliegen. Es gab der Unterhaltung genug. Liegestühle, ein Flügel, ein Billard, Schach und andere Spiele, ein Tennisplatz, ein Segelboot und mehrere Ruderboote standen zur Verfügung. Aber Punkt zehn Uhr war Ruhestunde. Da mußte jeder Lärm verstummen, durfte sich niemand mehr im Park aufhalten. Der Arzt und die Baronin übten strenge Aufsicht.
Nachts ging ich wieder zu Tanz. Der Gärtner feierte seinen Namenstag. Die Tischlerfamilie, das Serviermädchen Hedwig und die Diener und Köchinnen waren geladen. Man saß zwischen Sträuchern an einem großen Tisch. Um eine Lampe herum standen Berge von belegten Brötchen und Wein, Bier und Schnaps.
Man behandelte mich ausgesucht höflich, obwohl ich mich so natürlich wie möglich gab. Zwei Leute erzählten ihre Erlebnisse aus dem Russisch-Japanischen Krieg. Ein Jude spielte den Dolmetscher. Dann wurde auf einer holprigen Wiese hinterm Gärtnerhaus getanzt. Wilde Polkas bis morgens um zwei Uhr. Da ich zwischendurch viele Wodkas trank, wurde ich betrunken. Einige Nimmermüde wollten mich noch weiter mitnehmen. Aber am Kreuzweg kaufte ich mich mit einem Rubel von ihnen los. Als ich einschlief, klang mir's noch fernher ins Ohr: »Ligo – Li – g – o –!«
Es wurde eine Art Kabarett auf dem Müffelberg arrangiert, wobei ich mich rege mit allerlei Darbietungen und Rezitationen beteiligte, auch Mandoline spielte. Von Ingeborg war ein lustiges Plakat entworfen. Sie hatte in München Malerei studiert. Sie erzählte aus dieser Zeit sehr amüsant, wie ihre Pensionsmutter einen Pensionär bei Gericht verklagt hatte, weil er immer die Haut vom Pudding abschöpfte.
Die Mittagstafel war immer ganz offiziell. Geschulte Diener und Serviermädchen warteten auf. Es herrschte ein etwas zurückhaltender, dennoch vergnügter Ton. Ich lernte bald die einzelnen Kurgäste kennen. Eine Exzellenz soundso und deren Gesellschafterin Fräulein von Brockhusen, Herr Weiß aus Riga, ein Fräulein Benois. Eine alte Dame, die ihre Augen kaum so weit aufmachte, um sich selber sehen zu können. Die hatte ich heimlich »Das schlafende Jahrhundert« getauft. Der Name blieb.
Nach Tisch leistete ich manchmal noch der blinden Mrs. Clark Gesellschaft, aus Mitleid, und um mein Englisch aufzufrischen. Ferner war ein spitzbärtiger russischer Marineoffizier an der Tafel.
Das Gespräch drehte sich selten in meinem Beisein um Kunst. Man erzählte lieber anderes. Die Krebspest hatte die ganze Gegend heimgesucht. Die Düna hatte nachts eine Leiche an Land getrieben. Der Baron wollte die Scherereien vermeiden, die mit solchem Fund verbunden waren. Er ließ die Leiche wieder in den Strom stoßen. Sie landete auf der anderen Seite in einer livländischen Baronei. Dort stieß man sie wieder ab, und nun landete sie wieder auf kurländischem Gebiet, irgendwo.
Ich zog mit Biegemann und Fräulein Brockhusen einem Jungen zuliebe auf Käferjagd aus.
Ich half der Hausdame, Fräulein Dieckhoff, Fliegen töten. Mit der Gießkanne und heißem Wasser machten wir das.
Ich schrieb eine kurze Skizze »Gepolsterte Kutscher und Rettiche«.
Einmal am Tage wurde die Post vom Kutscher zehn Werst weit aus dem Orte Friedrichstadt geholt. Friedrichstadt war nur von Juden bewohnt.
Zu den wenigen, die etwas freiere Meinung hatten, zählten Olga und Wera, zwei zarte russische Studentinnen. Wera Iwanowna hatte ein Herzleiden. Mit ihr unternahm ich nachts im Regen einen langen Ausflug, und wir führten ernste, lange Gespräche, obwohl Wera ebensowenig Deutsch verstand wie ich Russisch. Abends war Tanz. Alles erschien im Frack und Balltoilette. Die Baronin saß am Flügel, und der Baron kommandierte französisch sehr gewandt eine Quadrille.
Ich las Bismarcks Briefe an seine Frau. Dann gab mir Biegemann das Buch »Bismarck in der Karikatur des Kladderadatsch«. Nebenher trieb ich etwas Geschichte und Geographie.
Die Baronin riet mir, die Heilbäder auszunutzen, die sie im Hause hatte, und mich täglich von den zwei angestellten Finnländerinnen massieren zu lassen. Massieren ließ ich mich nicht. Ich genierte mich. Ich badete täglich in der Düna, obwohl das Ufer schilfig und unsauber war.
Der