Die dunkle Seite des Balles. Konstantin Josuttis

Die dunkle Seite des Balles - Konstantin Josuttis


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gemacht.“ Er fing den stämmigen Zwerg auf, der sich gegen seine Brust geschmissen hatte. „Hab’ kein Tor gemacht, Ralph.“

      „Mario Tor gemacht.“

      „Schließ die Tür, es zieht.“ Drinnen duftete es nach den Kohlrouladen, die seine Mutter nach jedem gewonnenen Heimspiel machte. Irgendwann hatte Mutter dann angefangen, an jedem Spieltag Kohlrouladen zu machen, da alles andere von Mario als Vorwurf interpretiert werden könnte. Es wurde nie darüber gesprochen und Mario mochte auch den Hackbraten oder den Schweinehals, aber bei den Kohlrouladen fing Ralph nicht an zu weinen.

      „Mario Tor gemacht.“

      „Ralph, …“

      Er war im Wohnzimmer angekommen, wo seine Mutter noch in einer Blümchenschürze auf dem Plüschsofa saß und den Videotext durchforstete, auf der Suche nach etwas, das nicht zu finden war.

      Ihm einen Kuss auf die Wange gebend setzte er seinen Bruder ab. Die Mutter drehte ihm den Kopf zu und hob die linke Augenbraue. „Es war ein Foul“, versuchte er sich zu rechtfertigen, „ein klares Foul.“

      „Du hättest rechts vorbei gehen können.“

      „Da waren noch zwei Verteidiger.“

      „Die waren schon auf dem Weg nach innen. Früher hättest du das gesehen.“

      Früher war alles anders gewesen. Besser natürlich. „Mario Tor gemacht.“ Er bot dem Kleinen die Hand an: „Komm, wir gehen in die Küche.“

      „Die Kartoffeln sind noch nicht fertig. Ich schaue noch das Abendspiel an.“

      Mario seufzte und nahm seinen Bruder auf die Schulter. „Hopp, hopp, hopp, die Eisenbahn.“ Sie gingen durch die Terrassentür in den Garten, wo Ralph sich jubelnd vor das kleine Tor mit dem Aluminiumrahmen stellte und wild mit den Armen fuchtelte, so wie es die großen Torhüter machten. Mario überlegte sich manchmal, wie sein Leben aussehen würde, wenn sein Bruder kein Down-Syndrom hätte, ob er dann schon ausgezogen wäre und ein Leben wie die anderen führen würde. Er wusste ja, dass diese Gedanken nirgendwohin führten, aber manchmal schlichen sie sich einfach so ein in sein Gehirn. Er schoss einen leichten Ball in Ralphs Arme.

      „Gehalten, gehalten, gehalten. Musst du besser machen, Mario.“

      Also schoss er noch einmal und noch einmal, während drinnen die Kohlrouladen brutzelten und Mutter vor der Glotze hing.

      „Gehalten, gehalten, gehalten.“

      Eine Designerwohnung vielleicht und eine Designerfrau.

      „Gehalten, gehalten, gehalten.“

      Ein Leben, vielleicht.

      „Gehalten.“

      Er schoss, diesmal so wie vorhin im Spiel. Er sah seinen Schuss nicht, er sah irgendetwas anderes in einer unbekannten Ferne, doch als er wieder im Garten angekommen war, lag Ralph auf dem Boden und schrie und wälzte sich und hielt sich seine blutende Nase, während die Mutter mit einer universellen Muttergeste, nämlich den über dem Kopf zusammengeschlagenen Händen, hinausgebraust kam und jaulte.

      Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Mario Tor gemacht“, flüsterte er, so leise, dass es niemand hören konnte.

      4. Spieltag – Rituale

      Es war die Standardausrede: Das Spielfeld inspizieren. Helmgaard lief über den Rasen, tat so, als trete er ab und zu einen Erdhügel platt. Die Spieler hielten es für eine Marotte, was es zugegebenermaßen auch war, allerdings in einem ganz anderen Ausmaß, als es alle anderen ahnten. Die heikle Stelle befand sich am Tor, wo er den alten Groschen genau in der Mitte mit der Bäumchenseite nach vorne, direkt hinter der Kreidelinie eindrücken musste. Nachdem er mit der Mannschaft aufgestiegen war, hatte er zunächst nicht genau auf die Seite geachtet, doch als sie dreimal hintereinander verloren und gegen den Tabellenletzten nur ein Unentschieden zustande gebracht hatten, war ihm klar geworden, dass er ein Detail übersehen hatte. Der Glücksgroschen musste mit der Bäumchenseite nach oben hinter die Linie und der Baum musste aufrecht stehen.

      Die Leute, die keine Ahnung hatten, hielten den Trainerberuf für deswegen schwierig, weil man sich gleichzeitig mit den Vorgaben des Vereins, den Macken der Spieler, den Fans und dem nächsten Gegner auseinandersetzen muss. Für Helmgaard waren diese Dinge Kleinigkeiten, keinesfalls Auslöser von schlaflosen Nächten oder ein Grund, den Job demnächst an den Nagel zu hängen. Es stimmte schon – die Dummheit und Ignoranz einiger Fußballer war haarsträubend, die Vorstellungen der Vereinsleitung grenzten an Größenwahn und aus diesen zwei instabilen Konstanten eine Taktik zu schmieden, war nahezu unmöglich. Aber das war alles irrelevant, wenn er es nicht hinbekam, die spirituellen Vektoren, die zum Erfolg führten, akribisch auszurichten. Mittlerweile war er sich sicher, wie es funktionierte, doch es hatte Jahre gebraucht. Und er wünschte sich, dass er sein Wissen mit jemandem teilen könnte, doch das war in einer Welt, die so überaus materiell veranlagt war, unmöglich.

      Er blickte sich um. Das Stadion war fast verlassen, ein einsamer Ordner fegte irgendwo weit hinten auf der Haupttribüne ein paar herabgefallene Blätter von den Sitzen. Es war erst Mitte September und dennoch wirbelten überall braune Blätter durch die Luft. Der Groschen war versorgt. Jetzt nahm er die Asche, die er in einer Plastiktüte in seiner Innenjacke trug, und verstreute sie über das Torwartnetz. Gleichzeitig zog er an dem Netz, was den Anschein haben sollte, dass er die Haltbarkeit überprüfte. Dann spazierte er langsam hinüber auf die andere Seite des Feldes, wo er dasselbe Ritual erneut vollzog, mit einem neuen Groschen und weiterer Asche.

      Die Asche zu bekommen, war nicht leicht gewesen. Genau genommen war es diesmal nicht die richtige Asche. Das war erst fünfmal passiert und dreimal war es gutgegangen. Er brauchte ein benutztes Jersey, jeweils eins von seiner Mannschaft und eins von der gegnerischen. Das mit der eigenen war mittlerweile kein Problem mehr. Er hatte seiner Mannschaft glaubhaft erläutert, dass er nach jedem Spiel ein Trikot für eine karitative Einrichtung einsammeln würde. Keiner hatte Fragen gestellt. Das war der Vorteil von der Verlegenheit, die das Thema Behinderung bei Leuten auslöste –es gab keine Fragen. Er erinnerte sich daran, wie er noch den jungen Teffel trainiert hatte, den mit dem behinderten Bruder. Keine blöden Sprüche, wenn er vorzeitig vom Mannschaftsabend nach Hause ging, kein Gemoser der anderen, wenn der Sieg nicht ausreichend zelebriert wurde.

      Das Problem waren die Jerseys der gegnerischen Mannschaft. Er gab einen nicht geringen Teil seines Trainergehaltes für den Kauf gebrauchter Trikots bei Ebay aus. In Hamburg hatte er sich sogar schon in der Kabine der Hansestädter an die Spinds gemacht und tatsächlich einen ganzen Satz neuer Heimtrikots geklaut. Außerdem bestellte er regelmäßig neue Trikots bei den Herstellern. Doch wenn die Dinger nicht vom Gegner getragen waren, war die Wirkung nicht ansatzweise so groß. Grundsätzlich hatte er folgende Wirkungsgrade feststellen können:

       Von Spielern getragene Trikots sind am besten. Je mehr Schweißpartikel, Hautschuppen oder Haare auf oder an dem Trikot sind, desto besser.

       Die Trikots sollten idealerweise genau diejenigen sein, mit denen die Mannschaft am Spieltag aufläuft. Wenn die Mannschaft ein grünes Auswärtstrikot trägt, er aber ein blaues verbrannt hatte, sind die Chancen auf einen Sieg schlechter.

       Je wichtiger ein Spieler für seine Mannschaft ist, desto wirksamer ist die Asche des Trikots.

       Das Verbrennen mehrerer Trikots erhöht die Wirkung NICHT.

       Die Trikots sollten von der aktuellen Saison stammen.

       Ein Trikot mit einem falschen Ligenaufdruck (Bundesliga, Pokal, Champions League, Europaleague) kehrt die Wirkung um (in 7 von 8 Fällen).

       Es ist besser, irgendein Trikot zu verbrennen, selbst wenn es das von der Jugendmannschaft, eines Spielers, der gar nicht mehr für die Mannschaft spielt oder ein Trikot von einer vergangenen Saison ist. Ohne Asche geht das Spiel mit Sicherheit verloren (in 9 von 9 Fällen).

      Manchmal wünschte er sich, die immateriellen Bedingungen für einen Sieg nie kennen gelernt zu haben.


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