Nur eine kleine Insel. Jamaica Kincaid

Nur eine kleine Insel - Jamaica Kincaid


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das Schild mit der Ankündigung der Reparaturarbeiten ist ein prachtvolles altes Schild aus der Kolonialzeit. Nicht lange nach dem Erdbeben wurde Antigua von Großbritannien unabhängig und somit ein selbstständiger Staat. Die Antiguaner sind so stolz darauf, dass sie jedes Jahr zur Feier des Tages in die Kirche gehen und Gott, einem britischen Gott, dafür danken. Aber Sie sollten nicht an die Verwirrung denken, die all dies in sich birgt, und Sie dürfen schon gar nicht an die beschädigte Bibliothek denken. Sie haben Ihre eigenen Bücher mitgebracht, und unter ihnen befindet sich eines jener neuen Bücher über Wirtschaftsgeschichte, eines von den Werken, die erläutern, wie der Westen (das bedeutet Europa und Nordamerika nach seiner Eroberung und Besiedelung durch die Europäer) reich geworden ist: Der Westen ist nicht durch die freie (frei bedeutet in diesem Fall: umsonst zu haben) und damals über Generationen hinweg unterbewertete Arbeitskraft von Leuten meinesgleichen reich geworden, die Sie in Antigua herumlaufen sehen, sondern durch die Findigkeit kleiner Ladenbesitzer in Sheffield und Yorkshire und Lancashire und wo auch immer. Es wird auch erwähnt, was für eine bedeutende Rolle die Erfindung der Armbanduhr dabei spielte, denn es gab nichts, was edel gesinnte Menschen nicht tun konnten, als sie entdeckt hatten, dass sie die Zeit einfach so an ihrem Handgelenk anbinden konnten. (Das bringt nun doch das Fass zum Überlaufen: Wir mussten nicht nur die entsetzliche Sklaverei ertragen, jetzt wird uns auch noch diese Genugtuung genommen: »Euch Schweinehunde haben wir reich gemacht!«) Und deshalb dürfen Sie ja nicht das leicht komische Gefühl, das Sie von Zeit zu Zeit beim Gedanken an Ausbeutung, Unterdrückung und Beherrschung befällt, komplett in Unbehagen und Verdruss ausarten lassen, denn damit könnten Sie sich den Urlaub versauen. Sie sind schließlich nicht verantwortlich für das, was Sie haben; Sie schulden ihnen nichts, Sie haben ihnen sogar einen großen Gefallen getan, dafür können Sie hundert Beispiele anführen. Also, jetzt sind Sie da und schlendern am Regierungssitz vorbei. Jetzt sind Sie da und schlendern am Büro des Premierministers und am Parlamentsgebäude vorbei und an der höher gelegenen Amerikanischen Botschaft, die eine herrliche Aussicht auf den Hafen von St. John’s hat. Wenn Sie nicht wären, gäbe es gar keinen Regierungssitz, kein Premierministerbüro, kein Parlamentsgebäude und keine Botschaft des mächtigen Landes. Nun kommen Sie an einer Villa vorbei, einem außergewöhnlichen, im Farbton alten Kuhmistes gestrichenen Haus, das über so viele Schüsseln und Antennen verfügt, wie man sie nicht einmal an der Amerikanischen Botschaft zu Gesicht bekommt. Die Leute, die in diesem Haus wohnen, gehören zu einer Kaufmannsfamilie, welche vor weniger als zwanzig Jahren aus dem Nahen Osten nach Antigua kam. Anfangs hausierten die Familienmitglieder in Antigua mit Textilien; sie bewahrten sie in Koffern, die sie huckepack umhertrugen. Heute gehört ihnen ein großer Teil der Insel; sie leihen der Regierung regelmäßig Geld, sie bauen riesige (für antiguanische Verhältnisse), hässliche Betonbauten in Antiguas Hauptstadt St. John’s, die die Regierung daraufhin für Unsummen mietet. Ein Mitglied dieser Familie ist der antiguanische Botschafter in Syrien; die Antiguaner hassen sie. Nicht weit von dieser Villa steht noch eine; sie ist das Heim eines Drogenschmugglers. Jeder weiß, dass er Drogen schmuggelt, und sollte er ausgerechnet in dem Moment, in dem Sie dort vorbeifahren, über seine Schwelle treten, dann könnte es sein, dass Ihr Fahrer auf ihn hinweist als den berühmt-berüchtigten bunten Hund, der er ist. Dieser Drogenschmuggler ist nämlich so reich, dass er dem Vernehmen nach Autos im Zehnerpack kauft – zehn von diesem Typ, zehn von jenem. Er soll ein komplett ausgestattetes Haus (eine weitere Villa) in der Nähe von Five Islands gekauft haben, und zwar mit dem Bargeld, das er in einem Koffer bei sich hatte: Dreihundertfünfzigtausend amerikanische Dollar, wobei er zur Überraschung des Hausverkäufers immer noch eine Menge amerikanische Dollar übrig hatte. Oberhalb der Schmugglervilla gibt es noch eine Villa; dorthin führt die gepflegteste Straße von ganz Antigua. Sie übertrifft sogar die Straße, die im Jahr 1985 eigens für den Besuch der Königin hergerichtet wurde (als die Königin kam, erhielten alle Straßen, die sie befahren würde, einen neuen Belag, denn bei ihr sollte der Eindruck entstehen, eine Autofahrt in Antigua sei etwas Schönes). In dieser Villa wohnt eine Frau, die in Antigua von den Menschen, die sich den Schein von Welterfahrung und Raffinesse geben, Evita genannt wird. Sie ist eine berühmt-berüchtigte Frau. Sie ist jung und schön, außerdem die Freundin eines hohen Tiers in der Regierung. Evita ist berühmt-berüchtigt, weil sie dank ihres Verhältnisses mit diesem wichtigen Staatsdiener zur Besitzerin von Boutiquen und Grundstücken wurde, ein Mitspracherecht bei Kabinettssitzungen erhielt und allerlei weitere Privilegien, die einer schönen jungen Frau kraft ihrer Beziehungen zustehen.

      Ach, Sie haben ja mittlerweile genug gesehen und wollen ans Ziel kommen – ins Hotel, in Ihr Zimmer. Sie möchten sich gern frisch machen, Sie sehnen sich nach einem schönen Hummergericht und nach landestypischer Küche. Sie nehmen ein Bad, Sie putzen sich die Zähne. Beim Ankleiden schauen Sie aus dem Fenster. Dieses Wasser – haben Sie je so etwas gesehen? Weit draußen, zum Horizont hin, ist das Wasser marineblau. In der Mitte hat das Wasser die Farbe des nordamerikanischen Himmels, und von dort bis zur Küste ist es blass, silbern, klar, so klar, dass Sie den rosaweißen Sandgrund erspähen können. Ach, wie schön! Ist das schön! Noch nie haben Sie so etwas gesehen, Sie sind ganz aufgeregt. Sie atmen flach, Sie atmen tief. Sie erblicken einen hübschen Jüngling, der auf einem Surfbrett übers Wasser gleitet, einem Gotte gleich. Sie sehen eine unglaublich unattraktive, fette Frau, eine pastetenähnliche Fleischmasse, bei ihrem genüsslichen Spaziergang auf dem schönen Sand zusammen mit einem Mann, einem unglaublich unattraktiven, fetten Mann, einer pastetenähnlichen Fleischmasse. Sie sehen, wie sie sich an ihrer Umwelt ergötzen. Noch immer am Fenster stehend, sehen Sie sich schon selbst am Strand liegen, die erstaunliche Sonne genießend (eine so mächtige und doch so herrliche Sonne, wie sie immer am Himmel steht, gleichsam ständig Wache haltend, bereit, jegliche Wolke zu verscheuchen, die es wagen sollte, dunkler zu werden und sodann Regen auf Sie herunterrinnen zu lassen und Ihnen den Urlaub zu verderben; eine Sonne, die immer für Sie persönlich da ist). Sie sehen sich selbst an diesem Strand spazieren gehen; Sie sehen, wie Sie neue Bekanntschaften schließen (leider sind sie nur in sehr beschränktem Maße neu, denn die Menschen gleichen Ihnen wie ein Ei dem anderen). Sie sehen sich, wie Sie köstliche landestypische Speisen genießen. Sie sehen sich selbst, Sie sehen sich selbst … Sie dürfen sich ja nicht fragen, was mit dem Inhalt der Kloschüssel passiert ist, als Sie die Spülung betätigten. Sie dürfen sich nicht fragen, wohin Ihr Badewasser geflossen ist, als Sie den Stöpsel herausgezogen haben. Sie dürfen sich nicht fragen, was passiert ist, als Sie sich die Zähne putzten. Ach, alles könnte sehr wohl in das Wasser gelangen, in dem Sie zu schwimmen gedenken. Der Inhalt Ihrer Kloschüssel könnte unter Umständen sanft Ihre Knöchel streifen, während Sie unbeschwert im Wasser herumwaten, denn in Antigua gibt es eben kein richtiges Abwasserbeseitigungssystem. Aber die Karibik ist sehr groß und der Atlantik sogar noch größer; selbst Sie wären verblüfft, wenn Sie erführen, wie viele schwarze Sklaven dieser Ozean verschlungen hat. Wenn Sie sich niederlassen, um Ihr köstliches Mahl einzunehmen, ist es wohl besser, Sie wissen nicht darüber Bescheid, dass das meiste von dem, was Sie erwartet, aus Miami eingeflogen worden ist. Und wo hatte es sich wohl befunden, ehe es in Miami in ein Flugzeug geschafft wurde? Ein guter Tipp wäre: Es kam ursprünglich von einem Fleckchen wie Antigua, wo es spottbillig angebaut werden kann, um dann nach Miami zu gelangen und retour. Was da alles dahintersteckt, kann ich jetzt nicht erläutern.

      Was Sie hinsichtlich Ihres Touristendaseins schon immer befürchtet haben, stimmt genau: Ein Tourist ist ein hässlicher Mensch. Sie sind nicht die ganze Zeit ein hässlicher Mensch; Sie sind gewöhnlich kein hässlicher Mensch; Sie sind im Alltag kein hässlicher Mensch. Im täglichen Leben sind Sie ein netter Mensch. Im Alltagsleben werden Sie von allen, die Sie lieben sollten, im Großen und Ganzen geliebt. Wenn Sie im Alltagsleben eine geschäftige Straße entlanggehen in der großen, modernen und blühenden Stadt, in der Sie leben und arbeiten, sind Sie entsetzt und verwirrt (ein Klischee, aber nur ein Klischee kann Sie fassen), wie allein Sie sich in dieser Menschenmasse fühlen, wie furchtbar es ist, nicht bemerkt zu werden, wie schrecklich, nicht geliebt zu werden, sogar wenn mehr Menschen um Sie herum sind, als Sie in einem Jahrtausende währenden Leben je kennenlernen könnten. Dann sehen Sie aus dem Augenwinkel, wie jemand Sie anschaut mit allen Anzeichen größten Entzückens, und da merken Sie, dass Sie kein dermaßen widerliches Wesen sind, wie Sie glauben (denn dieser Blick hat es Ihnen soeben mitgeteilt). Deshalb sind Sie gewöhnlich ein netter Mensch, ein attraktiver Mensch, ein Mensch, der die Zuneigung anderer Leute auf sich zu ziehen versteht (von Ihresgleichen), ein Mensch, der sich in seiner eigenen


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