Das unauslöschliche Siegel. Elisabeth Langgässer
Herr Chronos ‹mit altmodischem Kraßfuß die beiden Herren begrüßend›
Vergeblich! Der Spiegel ist nicht zu versteigern, sondern bildet ein Stück Inventar. Beachten Sie nur, wie kunstvoll geschliffen und facettiert er ist!
Der Leser ‹höflich›
Ein Vexierspiegel, wie ich sehe. Er täuscht eine Tiefendimension vor, die das Zimmer hier gar nicht hat. Verlängerung, welche schnurstracks in die Vergangenheit führt.
Herr Chronos
Er täuscht sie nicht vor, sondern tut sie auf. Beachten Sie, wie die Personen der Handlung in ihn eintreten und uns den Rücken kehren, sobald sie den Rahmen durchschritten haben. Beachten Sie auch die Inschrift des Schildchens auf der geschwungenen Fassung dieses außergewöhnlichen Glases!
Der Leser ‹ den Kopf in den Nacken legend›
,Die göttliche Weisheit des Ursprungs‘, wenn ich richtig gelesen habe. Man sollte darüber nachdenken können. Aber inzwischen verlieren wir die Hauptperson aus den Augen.
Herr Chronos
Es gibt keine Hauptperson.
Der Kritiker
Wie ich schon sagte. Los, los! Beeilen wir uns und schließen wir uns an. Welches Gedränge! Wer stößt mich da? Wer ist mir zum Anstoß geworden?
Ein hübsches, junges Mädchen ‹vor sich hinträllernd›
Gehn’S weiter, gehn’S weiter – Sie sind ja nur Gefreiter!
Der Kritiker ‹ außer sich›
Der Gefreite ist doch noch gar nicht da. Der Gefreite tritt doch erst sehr viel später – bestenfalls in dem Epilog – auf, wenn ich recht unterrichtet bin! Wer sind Sie überhaupt, Fräulein? Sie kommen mir merkwürdig vor.
Das hübsche, junge Mädchen ‹ schnippisch›
Ein Anachronismus. Die außereh’liche Tochter von diesem alten Herrn.
Der Kritiker
Ich dachte es mir. Empörend, wie das durcheinandergeht!
Der Leser
Doch sie hat hübsche Waden. Ich folge ihr auf dem Fuß. Begleiten Sie mich?
Der Kritiker
Was würde aus Ihnen, wenn ich nicht mitkommen wollte!
Herr Chronos
Nun haben wir den Spiegel durchschritten und befinden uns in dem großen Auktionsraum dieses altehrwürdigen Hauses. Ich darf Sie noch einmal daran erinnern, daß es den Namen »Mundus« in aller Bescheidenheit trägt.
Der Kritiker ‹ streng›
Und das Tertium comparationis, bitte?!
Herr Chronos
Seine seltsame Architektur.
Der Leser
Ein Rundbau mit eingeschwungenen Grotten, die sich ihrerseits wieder nach rückwärts öffnen und in das Unendliche führen. Wunderbar –!
Der Kritiker ‹ trocken›
Bleiben Sie nüchtern. Das Ganze ist Spiegelfechterei. Betrachten Sie lieber die Gegenstände aus der Versteigerungsmasse. Dieser Schreibtisch hier muß jedem gefallen. Louis Seize. Mit hübschen Intarsien und Büchern aus der Zeit.
Der Leser
Eine Erstausgabe, sehen Sie nur, der Enzyklopädisten. Ein Manuskript des »Contrat social« von unbezahlbarem Wert! Wollen Sie steigern?
Der Kritiker ‹ winkt ab›
Ich fürchte, das würde zu teuer kommen.
Der Leser ‹aufgeregt hin- und herblätternd›
Wer weiß? Vielleicht ist er billiger, als wir vermutet haben.
Der Kritiker ‹ ihm über die Schulter sehend›
Auf jeden Fall wäre bei dieser Erwerbung das 18. Jahrhundert in Reinkultur mitenthalten . . .
Herr Chronos
Doch muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß die eigentliche Versteigerung in der dritten Phase beginnt.
Der Kritiker
Was heißt: »Phase«? Handelt es sich um Zeiten oder um Räume, mein Herr? Mir scheint die Architektur dieses »Mundus« einem wahrhaften Labyrinth zu gleichen, in welchem man sich verläuft.
Herr Chronos
Beruhigen Sie sich. Schon wirft Ariadne Ihnen den Faden zu!
Der Leser ‹ kläglich›
Wo sind Sie? Ich bin in die Irre gegangen. Ich bin wie das Zitat eines Buches verblättert worden. Suchen Sie mich! Es muß doch ein Sachregister vorhanden, ich muß doch zu finden sein!