Lieutenant Gustl von Arthur Schnitzler: Reclam Lektüreschlüssel XL. Mario Leis
was erlebt eben nicht ein jeder …« (S. 12). Gustls Status als Offizier der k. u. k. Armee dient ihm fortan als Leitfaden seines Denkens und Handelns, weil der militärische Dienst ihm ein sinnhaftes Dasein suggeriert. Er definiert sich über den militärischen Ehrenkodex und wacht argwöhnisch darüber, ob andere diesen Status angemessen würdigen.
Vor allem gilt es, die Gustl und die EhreOffiziersehre gegen jegliche Angriffe zu verteidigen. Wer Gustls Ehre missachtet, sollte nach den Normen des Standesdenkens dafür geradestehen. Doch als der Bäckermeister ihn entehrt und es für Gustl keine Möglichkeit gibt, entschlossen auf den Affront zu reagieren, sieht er als einzig akzeptablen Ausweg seine Selbsttötung. Gustls Ehrenhaftigkeit steht nun auf dem Prüfstand. Wie konsequent kann und will er seine Ehre – und die seines Standes – verteidigen? Vor diese Frage sieht sich der junge Leutnant in dieser Nacht gestellt und scheitert an einer klaren persönlichen Haltung, zumal er einen Typus präsentiert, der nur wenige individuelle Züge besitzt; er ist und bleibt ein naiver und »dummer Bub« (S. 15).
Der gesamte Gedankenstrom, aus dem die Novelle besteht, offenbart seine Der überforderte LeutnantHilflosigkeit in seiner Krise, der ersten existenziellen Herausforderung in seinem Leben. Das verwundert nicht: Er ist von Jugend auf indoktriniert worden zu einer Ideologie aus Nationalismus, Antisemitismus und -sozialismus sowie Militarismus, die ihn völlig beherrscht und aus der er sich nicht befreien kann. Hätte er wenigstens einen klugen und erfahrenen Menschen, einen Freund oder eine Freundin, um Rat fragen können, hätte der ihm vielleicht die Einseitigkeit, die Enge, die Verlogenheit seines Welt- und Menschenbildes erklären und ihn so zu besinnender Selbsterkenntnis, vielleicht auch zu einem stabilen Selbstvertrauen bringen können. Stattdessen kreist er hilflos in den anerzogenen Begriffen von Ehre und Mannesstolz – das Opfer einer vieljährigen Militärdressur, die er im Kreis Gleichgesinnter, also ohne ausreichend Kontakt zu anderen Menschen und ohne differenzierte Denkanstöße, durchlaufen musste.
Gustl ist immer darauf angewiesen, sich sein Verhalten von anderen Figuren bestätigen zu lassen, weil er kein ausgeprägtes Selbstbewusstsein besitzt. Eigene Zu keiner Selbstkritik fähigSchwächen gibt er nicht zu, projiziert sie vielmehr immer auf andere Figuren; selbst für seine Langeweile während des Oratoriums sucht er Schuldige: Sein Kamerad Kopetzky ist zunächst dafür verantwortlich, weil er ihm die Eintrittskarte geschenkt hat, dann ist Steffi schuld, weil er ursprünglich mit ihr verabredet war (S. 8 f.), wenig später ist sein Kamerad Ballert der Bösewicht, weil dieser Gustl am Vorabend beim Kartenspiel 160 Gulden abgenommen hat und Gustl deswegen für einige Zeit die Finger vom Glücksspiel lassen muss (S. 9 f.).
Gustls »Und was habʼ ich denn vom ganzen Leben gehabt?«Langeweile, die ihn nicht nur im Konzert plagt, wird schon im ersten Satz der Novelle – »Wie lang wird denn das noch dauern?« (S. 7) – als wichtiges Motiv seines Lebens thematisiert. Sie ist – unabhängig vom Oratorium – das Resultat seines monotonen Militärdienstes, der völlig ritualisiert ist und ihm keine existenzielle Erfüllung bietet. Stattdessen ergeht er sich – als Ersatzbefriedigung – in zahllosen kurzen Frauenabenteuern und in seiner Spielsucht. Auch seine Aggression, die er im Dienst nicht ausleben kann, eher von diesem sogar geschürt wird, reagiert er spontan ab, etwa am Bäckermeister und am Doktor, mit dem er sich am folgenden Tag duellieren möchte. Das Einzige, was Gustls Leben noch Sinn geben könnte, wäre ein Krieg: »Etwas hätt’ ich gern noch mitgemacht: einen Krieg – aber da hätt’ ich lang’ warten können …« (S. 31).
Gegen einen Krieg und seinen möglichen Tod in einer Schlacht hat er nichts einzuwenden, wenn wir ihm glauben dürfen, weil er dann auf dem vermeintlichen »Feld der Ehre« (S. 40) fallen würde. Aber vor seinem Selbstmord hat er fürchterliche Angst vor der SelbsttötungAngst; sie macht ihn kopflos; plötzlich bekommt er »so ein blödes Herzklopfen« (S. 36). Gustl versucht kurzfristig, sein Angstgefühl einer anderen Ursache als dem Selbstmordvorhaben zuzuschreiben: »Das wird doch nicht deswegen sein … Nein, o nein … es ist, weil ich so lang’ nichts gegessen hab’.« Aber sofort ist das blanke Entsetzen wieder da: »Angst hast Du – Angst« (S. 36).
Glimpfliches EndeAls der Leutnant im Kaffeehaus vom plötzlichen Tod des Bäckermeisters erfährt, kommt eine Selbsttötung für ihn nicht mehr in Frage; die wäre aber immer noch nötig, um seine militärische Ehre wiederherzustellen: Seine Entehrung ist durch den Tod von Habetswallner noch nicht aus der Welt. Damit hat der Leutnant seine eigene Definition von Ehre ad absurdum geführt: Gustl gibt zunächst vor, unter Ehre ein Gut zu verstehen, das dem Individuum nicht in erster Linie durch eine urteilende Gesellschaft zugeschrieben wird, sondern vor allem auf einer Selbstbeurteilung beruht. Er behauptet, in seiner Ehre vornehmlich deshalb verletzt zu sein, weil er seinen eigenen an sich selbst gerichteten Ansprüchen nicht gerecht geworden ist (»Ich weiß es doch, und das ist die Hauptsache!« [S. 19], »so weiß ich’s … ich weiß es … und ich bin nicht der Mensch, der weiter den Rock trägt und den Säbel, wenn ein solcher Schimpf auf ihm sitzt!« [S. 21]), verdeutlichen die letzten Seiten der Novelle: Gustl ging es vielmehr darum, seine Ehre als Wert, der ihm von seinem Umfeld zuerkannt wird, zu retten: Sobald feststeht, dass die Außenwelt von seinem unehrenhaften Verhalten nicht mehr erfahren kann, sieht Gustl keine Notwendigkeit mehr, seine Entschlossenheit und Tapferkeit durch einen Suizid unter Beweis zu stellen.
Bäckermeister Habetswallner
Als Gustl nach dem Oratorium einen Streit mit Habetswallner anzettelt, erkennt er in ihm den Bäckermeister, der auch in dem von ihm selbst häufig besuchten Kaffeehaus seit Jahren Gast ist. Fortan bezeichnet er seinen Gegner als Bäckermeister. Erst als der Kellner von dessen Tod Bericht erstattet, erfahren wir seinen Nachnamen; Gustls Familienname aber gibt der Autor nicht preis.
Habetswallner ist ein angesehener Geschäftsmann, der sein geliebtes Kaffeehaus-Ritual nicht missen möchte, »der jeden Nachmittag neben die Herren Offiziere seine Tarokpartie hat … mit’n Herrn Schlesinger und ’n Herrn Wasner von der Kunstblumenhandlung vis-à-vis!« (S. 43)
Ein Schlüsselwort der Novelle ist der » Der »dumme Bub«dumme Bub« (S. 15), als den der Bäckermeister den Leutnant bezeichnet, was eventuell gar nicht böse, sondern eher mitleidig von ihm gemeint ist. Gustl benimmt sich in seinem anerzogenen Standesdünkel so arrogant gegenüber einem lebenserfahrenen, reifen Menschen, dass dieser ihn fast väterlich als das bezeichnet, was er wirklich ist: ein dummer Junge.
Offenbar ist Habetswallner nicht nur an seinem Handwerksberuf interessiert, sondern darüber hinaus ein halbwegs Musischer Bäckermeistermusischer, für Höheres empfänglicher Mensch, da er ein klassisches Konzert besucht. Nach Gustls Beleidigung reagiert er selbstbewusst und ruhig, im Unterschied zu seinem streitbaren und ängstlichen Widerpart (S. 15). Habetswallner kennt den Verhaltenskodex des Militärs sehr genau, er weiß, dass Gustl ihn töten müsste, deshalb hindert er ihn unverzüglich daran, seinen Säbel zu ziehen. Der Bäckermeister möchte dem aufgebrachten Leutnant und seiner Karriere gleichwohl nicht schaden, deshalb reagiert er souverän, beinahe väterlich und fürsorglich: »So, hab’n S’ keine Angst, ’s hat niemand was gehört … es ist schon alles gut … so!« (S. 16)
Gustl dagegen ist überhaupt nicht in der Lage, Habetswallners Fürsorge zu schätzen, weil er nur auf seinen von Teilen der Wiener Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits als anachronistisch erachteten militärischen Ehrbegriff fixiert ist. Und am Ende der Novelle, nachdem der Bäckermeister an einem Schlaganfall Habetswallner ist tot.verstorben ist, beleidigt der Leutnant seinen Gegner, indem er die von Habetswallner gebackene »Semmel« (S. 45), eine Metapher für dessen souveräne bürgerliche Weltanschauung, aber auch für seinen Körper, Stück für Stück genussvoll isst: »Komisch, wie ich mir da immerfort die Semmel einbrock’, die mir der Herr Habetswallner gebacken hat!« (S. 45) Obendrein erhebt er den Verstorbenen voller Hohn in den Adelsstand: »Schmeckt mir ganz gut, Herr von Habetswallner! Famos!« (S. 45) Der Autor spielt hier auch mit dem zweideutigen »einbrocken«: Habetswallner hat Gustl etwas eingebrockt, ihn in eine peinliche Lage gebracht; nun aber ist Gustl handelndes Subjekt, er brockt sich selbst die Semmel ein.
Kopetzky
Der einzige Kamerad, der Gustl beim Militär nähersteht, ist Kopetzky. Der Leutnant erwähnt ihn in seinem Monolog fünfundzwanzigmal und hebt seinen Stellenwert