Das große Lise-Gast-Buch. Lise Gast
das auch erzählt.“ Es klang sehr kläglich. Dieter mußte lachen.
„Eine Fabrik ist noch kein Charakterfehler und ein Mercedes 220 erst recht nicht“, sagte er und lachte ein wenig. Genauso lachte Onkel Hannes manchmal. „Und er sagte...“ Dieter hielt inne.
„Was sagte er denn noch?“ fragte Regine ganz leise. Sie merkte, jetzt kam etwas Wichtiges, etwas, das Dieter ernst war.
„Er sagte, er hätte keine Kinder. Seine Frau ist gestorben. Daß so ein Mann gern eine kleine Nichte bei sich haben möchte, das kann ich verstehen.“
„Ja, aber ich will doch nicht“, piepste Regine ganz angstvoll. Sie hatte sich aufgesetzt. Die Locken hingen ihr wirr ins Gesicht. Ganz verscheucht hockte sie da, sie tat Dieter irgendwie schrecklich leid.
„Du denkst doch wohl nicht, daß wir dich los sein wollen?“ sagte er ganz schnell. Er sagte es so tief überzeugt, daß es Regine sogleich wieder ein wenig getroster zumute wurde.
„Nein? Dann brauch’ ich wohl auch nicht fort“, sagte sie ganz erleichtert. „Ich muß doch nur fort, wenn Onkel Hannes und Mützchen – wenn sie auch – wenn sie auch wollen, daß ich mitgeh’, nicht nur Onkel Henry.“
„Sicher nicht. Komm, mach dich zurecht! Wir gehen dann hinunter. Sie trinken Kaffee im Wohnzimmer. Ich wollte dir nur vorher ein bißchen was andeuten, damit du nicht womöglich vor lauter Schreck gleich ja und amen sagst.“
„Wirklich? Wirklich deshalb?“ fragte Regine jetzt schüchtern. Vor Dieter hatte sie immer noch eine leise Scheu. Er war auch nett zu ihr, aber so ein bißchen von oben herab, überlegen, ganz anders, als Axel es je gewesen war. Na, aber Axel war schließlich ihr Bruder. Jetzt war Dieter wirklich nett, fand sie.
„Danke, du“, sagte sie eilig und fuhr in die Sandalen, die sie unter Hannesles Bett vorgeangelt hatte. „Ja, gut, daß ich Bescheid weiß. Und das sag’ ich dir, wenn ihr mich nicht los sein wollt, ich gehe nicht. Mit dem schon gar nicht!“
„Und warum nicht?“ fragte Dieter lächelnd. Er hatte Regines Augen gesehen. Die funkelten ein bißchen.
„Der ist – hach, der denkt, wenn er kommt, muß jeder andere zurücktreten. Auf der Straße beim Überholen – ich sage dir, er war stinkwütend, als er nicht gleich vorbeikam. Und dann im Lokal! Zuerst er und dann erst die andern, so ungefähr. Als ob er der Kaiser von China wäre!“
„Soso. Denk mal! So kommt er mir auch vor“, sagte Dieter und lächelte noch mehr. Dann tat er etwas, was er noch nie getan hatte, er gab Regine einen kleinen Puff mit dem Ellbogen, als er so neben ihr herging.
Eigentlich nicht gerade liebevoll, aber Regine spürte genau, wie es gemeint war.
„Du bist gar nicht so dumm, wie andere Leute aussehen“, brummte er dabei. Regine guckte ihn an.
„Vielen Dank, du Affe. Du meinst mit den andern wohl dich selbst?“
Im Wohnzimmer war fein gedeckt. Mützchen hatte die bunten Tassen genommen und das gestickte Tischtuch, und es roch wunderbar nach starkem Kaffee. Auf dem Tisch stand in der Mitte der große Porzellanteller mit Kellerkuchen. Da hatte Mützchen also doch noch welchen! Gestern abend erst hatte sie es lachend und energisch abgeleugnet, noch welchen zu haben. Die Jungen wollten immer noch einen Betttröster, wenn sie schlafen gehen sollten. Sie machten Mützchen arm mit ihrer Bettelei. Aber gestern hatten sie es nicht erreicht! Regine lachte vor sich hin, während sie daran dachte.
„Na? Da kommt ja ein recht vergnügtes kleines Fräulein“, sagte Henry Habernoll und nahm ihre Hand, während sie vor ihm einen kleinen Knicks machte. Dann setzte sie sich auf den Platz zwischen Onkel Hannes und Mützchen, der für sie freigehalten worden war. Auch Dieter setzte sich. Jürgen und Gottfried waren nicht da.
„Freilich, Regele ist immer vergnügt“, sagte Mützchen stolz und goß ihr Milch ein. „Komm und nimm von hier! Nein, das andere Stück! Ich habe noch mehr draußen!“
„Für Hannesle?“ fragte Regine leise. Mützchen nickte. Regine blinkte einen Blick aus den Augenwinkeln zu Dieter hinüber. Er mußte auch lachen.
Es war an sich gar nichts Besonderes. Aber Onkel Henry fühlte deutlich: Hier war irgend etwas, was diese Menschen verband. Er ahnte nichts davon, wie Eltern und Kinder in einem vergnügten Krieg miteinander leben können, sich aus den Augenwinkeln verständigen und bei aller Uzerei im Grunde so einig sein können.
„Darf ich? Bitte!“ sagte er und hielt Onkel Hannes sein Etui hin. „Raucht Ihr Sohn auch schon?“ Er sah Dieter an. Regine verschluckte sich an ihrer Milch.
„Danke, nein“, sagte Dieter höflich mit undurchdringlichem Gesicht. Onkel Hannes gab Herrn Habernoll Feuer. Mützchen goß noch einmal Kaffee ein.
„Zur Zigarette“, sagte sie und wollte aufstehen, um noch ein bißchen frischen aufzubrühen. Regine hielt sie zurück.
„Bitte laß mich! Ich kann es wirklich gut tun“, sagte sie. Aber die Herren wollten keinen Kaffee mehr. Sie wollten nur noch ein wenig sitzen und rauchen.
„Dann darf ich wohl abräumen?“ fragte Regine ein wenig unbehaglich. Onkel Henry hatte doch eine unheimliche Art, seinen Willen durchzusetzen. Mützchen, die sonst mit ihrem berühmt guten Kaffee alle Besuche zu mindestens drei Tassen überredete, manchmal auch vier oder fünf, hatte sich wieder hingesetzt. Sie würde doch nicht, wenn Onkel Henry nun darum bat, Regine mitzunehmen, auch nachgeben?
Nein. Es wurde nicht einmal davon gesprochen, solange Regine dabei war. Gegen fünf Uhr begleiteten Mützchen und Onkel Hannes den Gast zum Wagen, und sie standen noch ein wenig und schwatzten miteinander, bevor der Mercedes geräuschlos anzog und entglitt. Regine hatte sich mit Hannesle in den hintersten Winkel des Gartens verzogen, und als sie nach ihr riefen, antwortete sie nicht. Sie hatte doch zu große Angst, daß der Onkel sie womöglich mitnehmen würde.
„Wo warst du denn?“ fragte Mützchen erstaunt, als sie zurückkam und Regine begegnete.
„Im Garten. Ist er fort?“
„Ja. Du solltest ihm doch noch auf Wiedersehen sagen“, meinte Mützchen.
„Lieber nicht. Lieber auf Nichtwiedersehen“, sagte Regine und sah Mützchen von unten her an, daß diese ganz entsetzt guckte. Regines Augen sahen regelrecht bedrohlich aus.
„Was hast du denn?“
„Ach, er soll mich nicht wegholen!“ stieß Regine hervor. „Gerade jetzt, wo wir alles so schön eingerichtet haben, wo ich dir den Nachtdienst abnehmen kann und...“
„Ach, du guter kleiner Kerl“, sagte Mützchen und lachte, „nein, er soll auch nicht. Und jetzt lauf und hole Feldsalat, wir wollen ihn heute abend zu den Bratkartoffeln essen. Magst du?“
„Ich will aber auch mit!“ brummte Hannesle.
Und Regine lachte: „Klar, du kommst mit. Und barfuß darfst du auch laufen, gelt, Mützchen? Und in den Bach reinplanschen! Das wird prima!“
Etwas geht entzwei
Regine kannte bald alle Schulkinder von Grüningen, obwohl sie nicht mit ihnen in die Schule ging. Mit denen, die nachmittags kamen, spielte sie in den Pausen, und beim Spiel lernt man sich am besten kennen. Der Schulhof vor dem Haus war sonnig und hell. Dort konnte man herrlich Völker- und Jägerball und all das spielen, was überall in den Schulhöfen gespielt wird. Abends spannten Dieter und Jürgen dann einen dicken Bindfaden von einem Fenster des Schulhauses zum Zaun hinüber und zogen im Kies des Schulhofes Striche, und dann wurde Ringtennis gespielt, bis man den fliegenden Ring in der Dämmerung nicht mehr erkennen konnte. Die Jungen spielten verbissen und ehrgeizig. Regine hatte das Spiel schnell begriffen und nach anfänglicher Unterlegenheit bald gute Erfolge erzielt. Es kam vor, daß sie sogar Jürgen schlug, der doch älter und auch trainierter war als sie. Aber sie war flink und wendig. Auch Mützchen spielte mitunter mit, vor allem im Vierer. Dann nahm sie sich Jürgen als Partner und