Zirkuläres Fragen. Fritz B. Simon
oder wenn es nicht manisch-depressiv ist?
HERR SCHNEIDERIch glaub, das wechselt im Moment alles noch etwas sehr, nicht?
FRAU SCHNEIDERDas kann sein, ja!
HERR SCHNEIDERWir wollen ja auch nicht vergessen, sie steckt noch in der Depression drin. Und ich weiß nicht, ob wir das jetzt alles auf einmal aufarbeiten können. Ich kann klar sehen. Ich seh sehr gute Chancen. Wenn es wirklich krankhaft ist, kann es behandelt werden.
FRITZ SIMONUnd Ihre Frau, denken Sie, sie schwankt eher, ob sie mehr Chancen sieht, wenn es krankhaft ist?
HERR SCHNEIDERDa würde ich im Moment sagen, sie schwankt sehr, ob sie es überhaupt akzeptiert oder nicht.
In diesem Abschnitt zeigt sich, daß die Diagnostizierung einer Krankheit nicht nur vergangenheitsbezogen im Blick auf die Schuld an den gemeinsam durchgestandenen Problemen weitreichende Bedeutung hat, sondern auch zukunftsbezogen. Allerdings sind die beiden in einer Sackgasse: Herr Schneider kann sich nur eine Zukunft für die Ehe vorstellen, wenn seine Frau krank ist. Nur dann hat er die Hoffnung auf eine erfolgreiche Behandlung, das heißt, daß sie ihr Verhalten ändert und das Zusammenleben wieder so wird wie früher. Frau Schneider hingegen will gerade dieses Zusammenleben ändern, das heißt, sie möchte, daß ihr Mann sein Verhalten ändert. Wenn er anerkennen würde, daß ihr Verhalten das Ergebnis von Eheproblemen ist, dann bestünde wieder Hoffnung für die Ehe. Beide miteinander konkurrierenden Diagnosen sind also mit unterschiedlichen Änderungsforderungen an ihn bzw. sie verbunden. Falls aber keiner sich ändert, hat die Diagnose Auswirkungen auf das Schicksal der Kinder. Es könnte „Gewinner“ und „Verlierer“ geben.
In dieser Sequenz wird eine der grundlegenden Fragestellungen deutlich, der sich jeder systemische Therapeut ausgesetzt sieht. Wer mit mehr als nur einem Patienten oder Klienten arbeitet, läuft immer Gefahr, zwischen die Fronten von Konfliktparteien zu geraten. Im Gegensatz zur Einzeltherapie, wo er sich als parteilich für seinen Klienten sehen kann, ist der Therapeut nun mit mehreren Personen konfrontiert, die nicht nur unterschiedliche Weltbilder und Werte haben, sondern auch nur zu oft widersprüchliche Ziele, Wünsche und, eng damit verbunden, unterschiedliche Aufträge an ihn.
In der Geschichte der Familientherapie finden sich unterschiedliche Ansätze, mit diesem Problem technisch umzugehen. Als Allparteilichkeit wird eine Haltung des Therapeuten bezeichnet, bei der er sich mit jedem Familienmitglied verbündet. Wo es um Konflikte geht, ist dies allerdings ein hoher Anspruch, zumal der Therapeut sich dabei sehr widersprüchlichen Forderungen ausgesetzt sehen kann. Daher kann Allparteilichkeit sicher nicht in jedem Moment der Sitzung realisiert werden, sondern lediglich im Laufe der Zeit, wenn nacheinander jeder der Beteiligten sich und sein Anliegen vom Therapeuten vertreten sehen kann.
Weit geringere Forderungen stellt das Konzept der Neutralität an den Therapeuten. Hier wird nicht verlangt, daß sich jeder der Teilnehmer vom Therapeuten vertreten sieht, es reicht, wenn keiner den Eindruck hat, der Therapeut sei parteilich für einen anderen.
Beiden Konzepten, dem der Allparteilichkeit und dem der Neutralität, ist gemeinsam, daß sie sich auf Personen bzw. Koalitionen, Parteien oder Subsysteme beziehen, die aus Personen gebildet werden. In unserer Arbeit hat sich ein anderes, weitergehendes Modell der Neutralität als nützlich erwiesen. Es umfaßt nicht nur die Positionen der Allparteilichkeit und Neutralität im dargestellten personenbezogenen Sinn, sondern es bezieht sich auch auf miteinander in Konflikt stehende Inhalte der Kommunikation. Der Therapeut nimmt auch gegenüber Sichtweisen, Bewertungen, Erklärungen (z. B. der Frage, ob Veränderung gut oder schlecht ist usw.) eine neutrale oder allparteiliche Position ein.
Am Beispiel des Gesprächs mit dem Ehepaar Schneider läßt sich dies verdeutlichen. Beide haben offensichtlich einen persönlichen Konflikt, so daß sich die Frage ergibt, auf wessen Seite der Therapeut steht. Es geht aber nicht nur um die persönliche Beziehung zu Herrn oder Frau Schneider, sondern auch um die Sachfrage, ob das Verhalten von Frau Schneider Symptom einer Erkrankung oder einer Eheschwierigkeit ist. Wenn er keinen der beiden Klienten verlieren will, scheint der Therapeut im Dilemma. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, daß er in einem Tetralemma steckt, das heißt, sein Handlungsspielraum ist nicht auf zwei Optionen begrenzt, sondern er hat vier unterscheidbare Verhaltensmöglichkeiten.
Abb. 1: Tetralemma
Wie die Familienmitglieder steht er vor der Frage, sich auf die Seite der einen Partei (Pro) zu stellen, auf die der anderen Partei (Kontra), eine „neutrale“ Weder-Pro-noch-Kontra-Position einzunehmen oder eine „allparteiliche“ Sowohl-Pro-als-auch-Kontra-Position zu wählen. In unserem Fall hieße Pro beispielsweise, die Partei des Ehemanns zu ergreifen oder, weniger personenbezogen, die Sichtweise zu vertreten, Frau Schneiders Verhalten sei krankheitsbedingt. Kontra hieße dagegen, ihr Verhalten als Ausdruck ehelicher Not zu deuten und/oder ihre Partei zu ergreifen (s. Abb. 1).
Es gibt aber noch die beiden, keiner Partei zuzuordnenden Positionen des Weder-noch (neutral) und des Sowohl-als-auch (allparteilich). Die Sowohl-als-auch-Position ist allerdings damit verbunden, daß sich der Therapeut sehr ambivalent, womöglich auch widersprüchlich oder paradox zeigt. Wenn – wie im vorliegenden Fall – zwei Therapeuten als Team arbeiten, ergibt sich die Möglichkeit des Splitting. Einer vertritt die Auffassung, es handle sich um eine organische Erkrankung, der andere vertritt die Ansicht, alles, was passiert sei, lasse sich durch die Eheprobleme erklären. Wenn beide sich – in Anwesenheit der Klienten – darauf einigen können, daß die Frage, wer recht hat, nicht zu entscheiden ist, eröffnet sich die Chance, einen dritten, pragmatischen Weg zu suchen, jenseits der Parteilinien oder Weltanschauungen des Entweder-oder.
3. Das Ziel der Therapie (Familie Bastian, Teil 1)
Die Situation eines Familientherapeuten ist in mancher Hinsicht mit der eines Taxifahrers zu vergleichen, zu dem mehrere Personen in den Wagen steigen, die unterschiedliche Fahrtziele angeben. Der eine möchte zum Bahnhof, der andere zum Flughafen, ein dritter sagt, ihm sei es egal, wohin die Fahrt gehe, er wolle nur weg von hier, und ein vierter will eigentlich da bleiben, wo er ist, wird aber von den anderen in den Wagen gezerrt. Aber selbst wenn alle sich einig sind, ist meist nicht klar, wohin sie wollen. Schon zur Orientierung des Therapeuten ist es daher wichtig, sich zu Beginn einer jeden Therapie geraume Zeit damit zu beschäftigen, wohin die Reise denn gehen soll. Solch eine „Zielklärung“ ist – konstruktivistisch betrachtet – eigentlich eine Zielerfindung, da die Beteiligten sich häufig erst Gedanken über das Ziel einer Therapie machen, wenn sie danach gefragt werden. Der sich so entwickelnde Dialog ist mühsam und scheint sich auf den ersten Blick mit nebensächlichen Themen zu beschäftigen, bedenkt man, welch dramatische und manchmal tragische Begebenheiten berichtet werden. Doch wenn das Ziel der Therapie nicht thematisiert wird und der Therapeut sich sofort in die angebotenen Inhalte „verliebt“, kann dies dazu führen, daß er sich – vorauseilend verstehend – seinen Auftrag selbst gibt. Und der muß nicht immer der sein, der ihm von seinen Klienten gegeben würde, wenn er genau nachfragen würde.
Die gemeinsame Beleuchtung der Frage, was das Ziel der Therapie sein könnte, ist im allgemeinen ein wichtiger Aspekt des therapeutischen Prozesses, da die Beziehung zwischen Therapeut und Klient bzw. Klientensystem eben doch einige Unterschiede zu der zwischen Taxifahrer und Passagier aufweist: Die Passagiere des Therapeuten müssen selbst fahren. Damit sie das tun zu können, sollten sie wissen, woran sie merken würden, daß sie dort sind, wo sie hinwollen (siehe Abb. 2).
Dieser Teil des therapeutischen Prozesses ist wenig spektakulär und erscheint ziemlich kleinkariert. Die Hauptschwierigkeit liegt darin, daß die meisten Therapeuten sich zu schnell mit irgendwelchen Abstraktionen abspeisen lassen oder zu schnell glauben, sie wüßten, was ihre Klienten meinen. Entscheidend ist, daß die Klienten konkrete