Das Mädchen, der Köter und ich. Хелена Эберг
Vater strich eine Falte in der Zeitung glatt und in der Küche herrschte Stille. Viktor vergaß, dass der Kakao heiß war, und verbrannte sich die Zunge. Er stellte die Tasse mit einem Knall ab, stand auf und stapelte die Knäckebrote auf einen Haufen. Kakaoreste schwammen noch auf dem Boden der Tasse, das war das Beste am ganzen Frühstück, normalerweise hob er sich diesen Rest bis zuletzt auf, aber jetzt hatte er keine Lust drauf.
»Interessiert mich sowieso nicht«, sagte er und ging mit den Broten in der Hand zur Tür.
»Du stehst nicht vom Tisch auf, bevor du aufgegessen hast!«, sagte der Vater so heftig, dass er sich am Kaffee verschluckte.
»Müsst ihr immer streiten?«, fragte Ingela, mit der Hand auf dem Arm des Vaters.
Sie sah traurig aus und legte den Kopf schräg wie ein Cockerspaniel.
»Ich muss nur schnell den Hund holen, Viktor. Ich fahre gleich los.«
»Das ist mir scheißegal«, erwiderte Viktor und schlug gleichzeitig die Tür zu, damit man ihn nicht hören konnte.
Der Hund lag ausgestreckt vor der Treppe, den Kopf auf den Pfoten, und stierte zur Tür. Er hob ein wenig den Kopf, spitzte die Ohren und wedelte mit dem Schwanz.
»Du kleiner Teufel«, brummelte Viktor.
Er holte sein Fahrrad, das an der Garagenwand lehnte. Der Ständer war kaputt. Er setzte sich auf den Sattel und balancierte die Brote, schwankte und bekam Krabbenkäse auf die Finger. Viktor mochte kein Geschmiere, das war für ihn das Schlimmste, was es überhaupt gab. Dreck ging gerade noch, aber kein Geschmiere. Er warf die Brote dem Hund hin, der sie sofort hinunterschlang, der Sabber lief ihm aus dem Maul.
Viktor wischte sich die Finger am Hosenbein ab.
»Du kleiner Teufel, das nächste Mal gibt’s Arsen«, zischte er und fuhr auf die Straße hinaus.
Er stieß genervt gegen den Ständer und haute sich dabei den Knöchel so an, dass sein Bein rasend schmerzte. Das Fahrrad war im Eimer. Er wollte ein Neues. Nur er fuhr auf so einem Schrotthaufen herum. Die Gänge waren hin und blieben die ganze Zeit hängen. Er schaute zum Ständer hinunter und schwankte. Als er hochsah, entdeckte er Marika.
Sie war zur Seite gesprungen und hatte sich an den Zaun gestellt, damit er sie nicht anfahren würde. Sie lächelte. Sie hatte einen fröhlichen Mund und wenn sie lächelte – wie jetzt –, wurden die Augen zu kleinen Schlitzen. Sie trug eine wilde Frisur; sie hatte dunkles Haar, das sich auf der Stirn nach hinten zog und ihr dann an den Seiten wie eine elektrisch geladene Wolke um den Kopf stand. Wenn man ganz dicht neben ihr stand, roch sie schwach nach Zigarettenrauch und kühlem Wind. Sie ging seit Beginn dieses Schuljahres in seine Klasse. Nach den Weihnachtsferien hatte sie im Gang gestanden. Sie hatte schwarze Jeans, eine schwarze Lederjacke und schwere Schnürstiefel getragen. Sie kam aus Stockholm, alles an ihr war von dort. Sie fluchte heftig, sie konnte Dinge sagen, die keiner bis dahin gehört hatte, zu jedem, egal wem, sogar zur Lehrerin. Aber sie war irgendwie gut drauf. Viktor hatte sie noch nie allein getroffen. Im Klassenzimmer saßen sie in verschiedenen Ecken, aber er hatte sie manchmal in der Essensschlange geknufft – wenn alle sich sowieso so drängelten, konnte er ja so tun, als sei es ein Versehen. Und er hatte sie oft heimlich angeschaut.
Sie war irgendwie erwachsener als die anderen Mädchen, sie hatte runde Brüste, und Viktor hatte gesehen, dass sie oft mit ein paar Typen aus der Achten zusammensteckte. Er hatte ein bisschen Angst vor ihr. Er bekam Schmetterlinge im Bauch, wenn er sie ansah, und jetzt wollte er sich am liebsten verdrücken, aber sie winkte ihn heran.
»Willst du nicht den Hund mitnehmen?«
»Nein, wollte ich nicht«, antwortete Viktor.
»Kannst du ihn nicht holen?«, bat sie.
»Kann ich schon«, sagte er lässig, um sich nicht anmerken zu lassen, dass er unter der Jacke zitterte, dass er davor Angst hatte, mit dem Hund an der Leine zu gehen, weil der nur zog und lief, wie er wollte.
Viktor kehrte um, schob sich mit den Füßen am Boden nach vorne, ohne die Pedale zu benützen, und warf das Fahrrad in die Garageneinfahrt.
Er löste das Seil vom Treppengeländer. Der Hund knabberte an den letzten Knäckebrotscheiben und schnüffelte nach Brotkrümeln. Er richtete sich widerwillig auf und hatte gar keine Lust, irgendwohin zu gehen. Ingelas Auto stand mit offenem Kofferraum in der Garageneinfahrt, er wusste also genau, dass es bald Zeit war wegzufahren. Viktor zog ihn hinter sich her, aber der Hund wollte seinen eigenen Takt gehen, langsam. Er sträubte sich und röchelte immer wieder bedrohlich. Viktor bekam Angst und ließ nach, aber der Hund röchelte immer noch. Als sie fast bei Marika waren, fiel er mit einem Plumps hin, rollte sich auf den Rücken und blieb liegen, als wäre er tot. Die Augen waren geschlossen und die Beine ragten in die Luft. Als Viktor an der Leine zog, winselte er.
Marika schrie auf, stürzte vor, sank in die Hocke, riss das Halsband ab und streichelte ihn vorsichtig unter dem Kinn.
»Du hast sie wohl nicht alle! Willst du ihn erwürgen oder was?«
»Nein ... Ich habe doch nichts getan«, murmelte Viktor.
»Typen wie du sollten verdammt noch mal keinen Hund haben dürfen!«
»Habe ich ja auch nicht«, sagte Viktor. »Er gehört nicht mir.«
Der Hund lag auf dem Rücken. Das Fell auf dem Bauch war so dünn, dass die rosa Haut durchschimmerte. Als Marika ihn hinter den Ohren kraulte, grunzte er wie ein zufriedenes Schweinchen, öffnete ein Auge und sah Viktor an. Der war sich sicher, dass er über ihn lachte.
Peinliche Gesellschaft
Viktor war auf dem Weg zum Bus, er trug seine alte Fußballtasche über der Schulter und balancierte auf der weißen Straßenmarkierung wie ein Seiltänzer. Ingela hatte sich angeboten, ihn in die Stadt zu fahren, sie hatte tief durchgeatmet und schnell gesprochen, damit es spontan klingen würde, aber er wusste, wie es laufen würde, sobald er in ihr Auto eingeschlossen war, da würde sie die ganze Zeit quatschen und ihn Sachen fragen, aber er wollte nicht über Gott und die Welt reden, jedenfalls nicht mit ihr. Er genoss es, »Nein danke« zu sagen. Nur das, sonst nichts.
Übrigens fragte sich Viktor, was sie in der Stadt zu tun hätte. Sie würde bestimmt nur eine Runde drehen, dachte er, sie war sonst immer beim Vater zu Hause, sobald er selbst nicht daheim war. Der Vater war nie allein, nur Viktors Mutter war allein. Deshalb würde er jetzt zu ihr fahren.
Als er bei den Zebrastreifen angekommen war, vergrößerte sich der Abstand zwischen den Streifen. Er hielt an und nahm Anlauf: Er durfte nicht auf dem Asphalt landen, das bedeutete Unglück. Wenn er den weißen Streifen traf, würde etwas Schönes passieren. Er streckte sich, wackelte, schaffte es aber. Ein Glück! Er atmete tief aus und lief auf den Querstreifen über die Straße.
Er setzte sich in das Bushäuschen und wühlte in seiner Tasche. Er hatte ein paar abgegriffene Comics, den neuen Hobbykatalog und eine Tüte Fantasialand dabei, die er im Vorratsschrank gefunden hatte. Zahnbürste und Schlafanzug hatte er schon bei seiner Mutter.
Er nahm sich ein paar Weingummis, er war wund im Mund von dem heißen Kakao, es brannte, dass ihm Tränen in die Augen stiegen, und er spuckte die Weingummis auf den Gehsteig.
Durch einen schmalen Spalt in der Holzwand sah er die Autos, die aus der Kurve beim alten Coop-Laden kamen: Zuerst ein roter Volvo 780, dann dauerte es eine Weile, bis drei weiße Saabs nacheinander kamen, das musste etwas bedeuten. Er schaute nach dem nächsten Auto, sah aber nur, dass jemand angeradelt kam, jemand in einer roten Jacke und mit langem, dunklem Haar. Sie trug eine neue rote Jacke aus weichem Velour.
Viktor spürte wieder die Schmetterlinge im Bauch. Er stand auf und machte die Tasche zu. Sie radelte direkt auf ihn zu, machte vor dem Bushäuschen eine Vollbremsung und warf den Kopf zurück, sodass die Haare auf den Rücken fielen. Sie hatte ein Mountainbike, genauso eins, wie er es sich selbst wünschte: ein schwarzes. Sie war schnell gefahren und außer Atem. Sie lehnte sich über den Lenker und lächelte ihn an.
»Hallo«, sagte sie,