Kreativ sein als Naturfotograf*in. Bart Siebelink
noch besseres Equipment anzuschaffen, mit noch mehr Techniken zu jonglieren oder noch mehr Fotolocations abzuhaken. Der Weg, den wir diesmal suchen, führt nach innen, zu uns selbst.
Was Sie dafür benötigen, sind vor allem Erkenntnisse, nicht nur über sich selbst, sondern vor allem darüber, wie ein kreativer Prozess abläuft. Schlüsselkomponente dabei ist die Reflexionsfähigkeit, und dafür braucht man einen bestimmten Diskurs. All dies finden Sie in diesem Buch.
Verlassen Sie sich auf den Prozess
Die einfache Erkenntnis, dass ein Prozess für die Entwicklung eines eigenen Stils erforderlich ist, hat weitreichende Konsequenzen für Ihr Vorgehen. Da ist zunächst die befreiende Einsicht, dass man ungestraft eine Menge schlechter Bilder machen kann. Tatsächlich muss man diese sogar erst machen, bevor man zu der besseren Arbeit kommt. Denken Sie an all die Hahnenskizzen des japanischen Künstlers. Betrachten Sie die gesamte dafür aufgewendete Zeit als Flugstunden. Wenn das kein tröstlicher Gedanke ist!
Wenn Sie die Idee des Prozessansatzes noch etwas länger auf sich wirken lassen, wird schnell klar, dass sie auf einem ganz neuen Mindset basiert.
Hier können Sie sehen, wie die Entwicklung der Naturfotografie mehr oder weniger der Entwicklung der Künste folgt: von der Motiv- über die Bild- zur Erlebnisorientierung.
Zunächst einmal benötigt der Prozess viel Raum. Sie müssen sich also Zeit dafür nehmen und daran arbeiten. Gönnen Sie sich die Ruhe, in Ihrem eigenen Tempo zu forschen, zu experimentieren und zu scheitern. Dabei ist das Suchen wichtiger als das Finden.
Vergessen Sie einmal das Endergebnis. Es ist viel sinnvoller, wenn Sie lernen, sich die richtigen Fragen zu stellen und interessante Schritte zu unternehmen. Das können Sie übrigens nicht alles allein machen. Es ist enorm hilfreich, einen Coach oder Mentor zu finden, der Sie anleitet. Das funktioniert in der Gruppe sogar noch besser als einzeln, denn dann profitiert man von Austausch und Brainstorming.
Klingt das ein wenig abstrakt und schwer fassbar? Glückwunsch, genau das ist der Sinn der Sache. Sie sind dabei, etwas Neues zu lernen, und dafür müssen Sie Ihre Komfortzone verlassen. Kein Wunder, dass Sie erst einmal fremdeln.
Der Lernzyklus
Übung macht also den Meister, aber mit Übung allein kommt man nicht ans Ziel. Man kann noch so viele Varianten ein und desselben Themas produzieren – wenn man dies unreflektiert tut, schafft man es nicht auf die nächste Ebene. Nach Ansicht des amerikanischen Lernpsychologen David Kolb muss man vier Phasen durchlaufen, um etwas gründlich zu lernen: (1) Sie erleben etwas Neues, (2) Sie lassen es auf sich wirken, (3) Sie analysieren, sehen Zusammenhänge und ziehen Schlussfolgerungen und (4) Sie wenden Ihre Erkenntnisse künftig an.
So sieht der Lernzyklus aus (frei interpretiert nach dem amerikanischen Lernpsychologen David Kolb). In welchem Typ erkennen Sie sich selbst am meisten wieder? Welche Phase ist Ihrer Meinung nach die schwierigste?
Skurrile Eisformen auf einem gefrorenen Buchenblatt. Ich habe dieses Motiv erst entdeckt, nachdem ich mich wegen etwas anderem hingehockt hatte. Zuerst war ich völlig auf diese flügelartige Form oben in der Mitte konzentriert. Erst nach einer Minute sah ich, dass diese geschwungenen Linien und das Blatt selbst ebenso spannend waren. Plötzlich erkannte ich darin einen abstürzenden Ikarus. All diese Schritte bilden einen kleinen, aber komplett kreativen Prozess, der während des Fotografierens in kurzer Zeit abläuft. Schließlich können wir von Orientierung, Ausführung, Reflexion und Ideenbildung sprechen. Nikon D810, 105 mm, 1/6 s, Blende 18, ISO 400, Stativ
Dies erklärt zum Beispiel, warum sich viele Amateurfotografen nach einer Fotosession endlos viel Zeit nehmen, um aus der üppigen Ernte auf ihrer vollen Speicherkarte ihre besten Bilder auszuwählen.
Zugegeben, es kann auch ein angenehmer Zeitvertreib sein, ganz darin aufzugehen. Aber wenn wir den Lernzyklus danebenstellen, zeigt sich, dass man noch nicht in der Lage ist, von Phase 2 (einwirken lassen) zu Phase 3 (analysieren und Schlüsse ziehen) überzugehen.
Für Profis hingegen ist es ein Klacks, weshalb sie dann problemlos und schnell entscheiden, welche drei Viertel ihrer Neuzugänge direkt in den Papierkorb wandern. Sie wissen auch, welche Bilder sie in diesem Moment für die besten halten, und können das begründen. Auch wenn sie so vernünftig sind, darüber hinaus doch noch etwas Bildmaterial aufzubewahren, das eventuell Potenzial hat, weil es beispielsweise zu neuen Ideen inspirieren kann. Sie sind damit also bereits wieder mit Phase 4 (Anwendung) beschäftigt.
Die Phase, die Ihnen von Natur aus am leichtesten von der Hand geht, bestimmt Ihren bevorzugten Lernstil. Dies ist die Phase, mit der Sie am liebsten starten und in der Sie die meiste Zeit verbringen. Es ist jedoch wichtig, dass Sie auch die anderen Phasen durchlaufen. Ansonsten ist Ihr Lernprozess unvollständig, und der Stoff bleibt nicht hängen. Profis beherrschen alle Lernstile und wenden sie dann an, wenn sie im kreativen Prozess am effektivsten sind. Manchmal beginnen Sie mit einer Reflexion über vorhandene Arbeiten (Phase 3) und notieren die Erkenntnisse für ein neues Projekt. Ein anderes Mal gehen Sie hinaus und lassen sich überraschen (Phase 1).
Geschmack ist ein korrupter Gradmesser
Wie oft hört man »Ich finde es schön« oder »nicht schön«, wenn Menschen über ein Foto sprechen? Sie lassen sich dann von ihrem persönlichen Geschmack leiten. Wenn die Geschmäcker unterschiedlich sind, gerät man in eine Sackgasse, und um die Stimmung nicht zu trüben, wird die Diskussion mit der Plattitüde »Über Geschmack lässt sich nicht streiten« abgewürgt.
Bleiben Fotobesprechungen für Ihren Geschmack zu oft auf diesem Niveau stecken? Dann haben Sie die falschen Gesprächspartner, was auf Dauer frustrierend ist. Sie bekommen schließlich kein befriedigendes Feedback, und solange man nicht weiß, wie man aus der Geschmacksfalle herauskommt, wird sich diese Frustration endlos wiederholen.
Natürlich ist ein persönlicher Geschmack völlig legitim. Ihren Geschmack brauchen Sie, um in fast jedem Bereich Entscheidungen zu treffen. Spontan denkt man dabei an Kleidung, Frisur, Wohnungseinrichtung, Partner, Auto, Schreibtisch und so weiter. Daher ist die Entwicklung eines Geschmacks nicht problematisch, sondern zwei andere Sachen, die zu Unrecht stark damit assoziiert werden.
Das erste ist die Art und Weise, wie Sie mit Ihrem eigenen Geschmack umgehen. Die Schlüsselfrage, die Sie sich stellen müssen, lautet: Haben Sie Ihren Geschmack oder sind Sie Ihr Geschmack? Die meisten Menschen betrachten ihren Geschmack als einen festen Wert, auf den sie blind vertrauen, weil er immer mit einem angenehmen Gefühl belohnt wird. Und warum sollte man gegen seine Gefühle handeln? Das sorgt nur für Unbehagen. Oder nicht? Wie oft hören Sie: »Folge deinem Gefühl«? Geschmack ist daher für viele ein absoluter Kompass. Klingt logisch, nicht wahr?
Dieses Schema zeigt (mit einem Augenzwinkern), dass Geschmack kein konstantes Merkmal ist, sondern sich pro Lebensabschnitt entwickelt und im Laufe der Jahre immer individueller wird.
Diese Übersicht bietet Ihnen Anhaltspunkte, wenn Sie Fotos mit den Phasen der Geschmacksentwicklung verknüpfen möchten. Disclaimer: Sie dient der Veranschaulichung und soll die Unterschiede (in loser Folge) benennen. Ohne Werturteil, denn eine Phase ist