Nomade. Youssouf Amine Elalamy

Nomade - Youssouf Amine Elalamy


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Aschereste eines in Flammen lodernden Körpers. Es musste doch ein Wort geben dafür. Um einen Mann zu bezeichnen, der über den Rücken der Wüste flatterte, als wäre er ein Schreibrohr aus Schilf, ein Calamus, der einen Buchstaben nach dem anderen auf einem Pergament notiert.

      Dort angekommen, wo er ankommen wollte, verlangsamte Issa Maarouf seinen Schritt, bis er sich nicht mehr von der Stelle rührte. Und auch Taschfin war da, direkt hinter ihm, und rührte sich nicht mehr. Der Vater sagte noch immer nichts. Geschmeidig wie ein Tier kauerte er sich hin und begann, mit dem Finger Konturen in den Sand zu zeichnen. Taschfin kauerte sich ebenfalls hin und tat weiter nichts, als dem Finger seines Vaters zuzusehen. Der Finger wagte einige Schritte, drängte nach vorn, flog förmlich davon, verlor sich unterwegs, versank im Sand, tauchte sofort wieder auf, machte sich ganz leicht, zerfurchte den Sand mehr, als dass er sich hineinbohrte in ihn, ersann eine andere Route, erklomm eine Gerade, kam zurück, drehte sich um sich selbst, glitt zeichnend über den gezeichneten Zug hinweg, richtete sich auf und pickte nach zwei Körnern – ja, zwei kleinen Körnern in der hohlen Hand einer Rundung.

      Ein Vogel, dieser Finger des Issa Maarouf. Wirklich, man könnte meinen, ein richtiger Vogel. Und überall hinter ihm: Spuren.

      »Weißt du, was das ist?«

      »Der Tanz eines Skorpions, Vater?«

      »Nein, Taschfin.«

      »Das Vorbeihuschen einer Schlange?«

      »Nein.«

      »Der Lauf einer Eidechse?«

      »Nein, mein Sohn. Das ist die Antwort auf deine Fragen.«

      Taschfin, stumm. Noch immer in der Hocke.

      »Die Spuren, die du hier siehst, das ist die Schrift. Eine Karawane, die auf einer Linie vorrückt. Sieh nur die Hand, wie sie schreibt, und jeder Buchstabe lässt hinter sich die Erinnerung an seine Reise zurück. Weißt du, unser Leben ist nichts als eine Abfolge von Spuren, welche die Zeit fortwährend löscht. Alle Sonnen gehen einmal unter, und alle Winde legen sich irgendwann. Alle Nächte, Taschfin, haben ein Ende. Aber es gibt ein glückliches Königreich, in dem die Dinge, die geboren werden, für immer geboren werden und für immer unter unseren Augen sind. Es ist jenes Reich, das du auf dem engen und gewundenen Pfad der Schrift betrittst.«

      Taschfin in der Hocke, stumm. Nach einer Geste suchend, um auszudrücken, was er mit Worten nicht zu sagen wusste.

      »Die Zeichnung, die du hier siehst, das ist eine Frau. Das da sind ihre Augen, und diese Spuren besagen, dass sie schwarz sind, von einem tiefen, reinen Schwarz, wie ein Gefieder. Jetzt muss ich nur noch dies hinzufügen, damit sie schön aussieht, oder das, damit sie noch viel schöner aussieht.«

      Taschfin, stumm, tat weiter nichts, als dem Finger seines Vaters zuzusehen. Und obwohl er nichts als Sand vor Augen hatte, stellte er sich diese Frau vor, die ihre ganze Schönheit aus der flüchtigen Bewegung eines simplen Fingers bezog.

      Ein Flügelschlagen. Issa Maarouf schaute kurz auf, dann senkte er den Blick auf seinen Sohn:

      »Wenn du dir diese Frau bewahren willst, musst du sie mit Tinte niederschreiben. Nur so findest du sie jederzeit wieder, und immer so jung und so schön wie einst. Ich werde dich lehren, Weiß mit Schwarz zu bedecken, so wie die Nacht den Tag bedeckt.«

      »Vater?«

      »...«

      »Und wenn man sie einfach hier lässt, diese Frau? Wenn man sie nur so in den Sand hineinschreibt?«

      Issa Maarouf schürzte die Lippen, wie um zu pusten, und wischte mit der flachen Hand die Spuren hinweg, sämtliche Spuren.

      »Dann wird der Wind sich erheben und wird die Frau mitsamt ihrer Schönheit hinwegtragen mit sich. Und ihre Augen werden nicht mehr sein, um zu sehen, Taschfin, und das Schwarz ihrer Augen wird nicht mehr wissen, wohin.«

      Kapitel 5

      Die Wüste ist schön, sehr sogar. Aber auch tödlich. Und eines Tages kam er, der Tod. Überallhin. Die Tiere krepierten mit aufgedunsenem Bauch, vom Winde versengter Zunge und Augen, die weit aufgerissen waren, als weigerten sie sich, dort, inmitten von nichts, zu sterben. Nur einige Vögel kreisten weiterhin am Himmel, in sicherem Abstand zu den Menschen.

      Die Sonne brachte einen Greis nach dem anderen zur Strecke, und man ließ sie einfach am Wegrand liegen, halb vom Sand begraben, verdorrten Baumstümpfen gleich. Man machte sich längst nicht mehr die Mühe, ein Loch zu schaufeln, sie mit Erde zu bedecken und darauf ein paar Steine zu häufeln, um sie vor wilden Hunden zu schützen. Es gab nichts mehr zu fürchten. Auch die wilden Hunde waren tot, ihre Augen und Bäuche unter der sengenden Sonne zerplatzt. Manchmal pfiffen die heißen Winde durch die Gerippe, aus denen es dann nach Vogelschrei klang. Niemand schien diese Musik zu hören; keine Frau verspürte Lust, darauf zu tanzen. Völlig erschöpft, hatten die Frauen nicht einmal mehr die Kraft, um ihre Kinder zu weinen, die in ihrem Rücken starben. Sie trugen sie auf dem Rücken, weil sie es nicht über sich brachten, in diese Augen zu sehen, die sie mit zärtlichem Blick anklagten. Diese Kinder, als Nomaden geboren, waren bereits auf Wanderschaft. Sie hatten ihre Mütter als Reittier gewählt, um diese Wüste ohne Wasser, ohne Schatten, ohne Nahrung zu verlassen, diese Erde, aus der jedes Leben gewichen war.

      Wer unter den Männern noch Kraft dazu hatte, zerriss mit bloßen Zähnen Pflanzenfasern, saugte den mageren, bitteren Saft einer Wurzel aus. Andere zählten mit finsterer Wut im Blick ihre Toten. Wieder andere, schon sehr geschwächt, stritten um einen Platz im Schatten einer Palme, ließen sich dann zu Boden fallen wie ein verletztes Tier. Ihnen war, als sähen sie oben in den Palmen die Phalanx des Todes, bereit zum Zugriff. Nie waren ihnen die Palmen näher erschienen, nie schneidender. Und sie blieben einfach liegen im Sand und warteten stumm, ja reglos, den Kopf auf einen dürren Stein gebettet. Warteten auf etwas und wussten als Einzige, worauf. Wussten als Einzige, dass sie darauf warteten, dass nichts passierte. Und so verharrten sie stundenlang, ohne zu reden, und starrten ins Blau, wo sie etwas sahen, von dem sie eigentlich dachten, es sei unsichtbar: den Tod.

      Einmal sah Taschfin, wie einer der Männer sich mühsam auf dem Bauch fortschleppte, um abseits der anderen zu sterben. Als er so weit gekommen war, wie er nur konnte, wurde er immer langsamer, bis es gar nicht mehr ging. Und auch Taschfins Augen waren da, blieben an ihm haften, kamen nicht mehr von ihm weg. Die Spuren, die dieser Mann am Boden zurückließ, ähnelten der Asche eines verbrannten Körpers. Es musste doch ein Wort dafür geben. Ein Wort für einen Menschen, der auf kleiner Flamme stirbt.

      Aber vielleicht hatte dieser Mann auch begriffen, dass er genau hier lauerte, der Tod: in diesem stummen, ja reglosen Warten im Schatten einer Palme. Dass er, wenn er ihn ein wenig aufhalten wollte, sich rühren musste, sich vorwärts bewegen, ein wenig voran, auf den Händen, den Augen, dem Bauch, irgendwie, bloß sich bewegen, immer weiter, stets ein bisschen voran. Denn hier war das Leben, und nirgendwo sonst, in jedem Schritt, den er tat, und sei er noch so klein, jeder Hand, die sich weiter und weiter nach vorne schob. Jedes noch so kleine Stück Weg verriet, dass er noch lebte und dem Gegner einen Schlag nach dem anderen versetzte. Mit bloßen Händen, ohne Klinge, ohne Waffe, allein mit den Fingern, die der Wüste ebenso viele Wunden zufügten, wie sie sein Körper, sich über den Sand schleppend, gleich wieder verband. Alles Schriftzüge, diese Spuren, die er im Sand hinterließ. Ein Auge, das all dem von oben zusähe, dächte wohl an eine Hand, die über ein Pergament dahingleitend einen Abschiedsbrief schreibt und im selben Zug wieder löscht.

      Jeden Tag zogen die Beni Maarouf von dort weiter, wo sie sich am Abend zuvor niedergelassen hatten. Männer, Frauen und Kinder, ein ganzer Stamm war auf den Beinen. Doch wo immer sie hinkamen, der Tod war flinker als sie. Überall fanden sie Kadaver vor. Das Vieh lag mit klaffenden Bäuchen herum, und durch die schimmernden Rippen pfiff leise der Südwind. Von den wenigen Tieren, die weitergezogen waren, immer der Witterung nach, doch ohne den geringsten Grashalm oder Wassertropfen zu finden, von denen wussten die Menschen, sie würden bald von ausgehungerten Vögeln eingeholt, die sich auf sie stürzten, um ihnen die Augen auszuhacken. Die zähesten unter ihnen würden ein wenig später fallen, schwerfällig, krampfhaft zuckend, vor Leben wimmelndes rotes Fleisch – als


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