Gegen die Angst. Adam Hamilton
Wenn Sie ein Unrecht begangen haben, wenn Sie jemanden getäuscht oder ihm etwas Wertvolles weggenommen haben, dann wird irgendwann der Tag kommen, an dem Sie sich dem begangenen Unrecht stellen müssen. Die Angst vor diesem Tag, die ständige Sorge und Furcht, sind manchmal eine größere Strafe als die Konfrontation selbst.
Jakob und Esau waren Zwillinge, aber Esau war kurz vor Jakob zur Welt gekommen. Also war er der Erstgeborene, und das wiederum bedeutete, dass er das Erstgeburtsrecht hatte. Als ältestem Sohn stand Esau nach dem Tod seines Vaters der doppelte Anteil am Erbe zu, und er würde das Familienoberhaupt werden.
Aber Jakob war klüger und gerissener als sein Bruder, und außerdem der Liebling seiner Mutter. Sie zog ihn ihrem Erstgeborenen vor. Eines Tages erwischte Jakob Esau in einem schwachen Moment. Sein älterer Bruder hatte den ganzen Tag schwer gearbeitet und kam ausgehungert nach Hause. Jakob überredete ihn, ihm sein Erstgeburtsrecht für eine Schale Eintopf zu verkaufen. Aber die eigentliche List kam später, als Isaak, der Vater der Jungen, alt und schwach geworden war. Da sie wusste, dass Isaak nahezu blind war, überredete Jakobs Mutter ihn, sich für Esau auszugeben und seinem Bruder Isaaks Segen zu stehlen. Isaak legte die Hand auf Jakobs Kopf, ohne zu merken, wen er vor sich hatte, und gab dem jüngeren Sohn den Segen, der für den älteren bestimmt war. Jetzt war es offiziell. Das Erstgeburtsrecht würde an Jakob fallen.
Als Esau erfuhr, was geschehen war, zog er los, um seinen jüngeren Bruder zu töten. Jakob floh in ein fremdes Land. Dort lebte er viele Jahre, gründete eine Familie und vermehrte seinen Besitz. Doch irgendwann, das wusste Jakob, müsste er nach Kanaan zurückkehren, denn das war das Land der Verheißung. Und das bedeutete, dass er sich dem Mann würde stellen müssen, den er betrogen hatte, dem Bruder, der ihm nach dem Leben trachtete.
Haben Sie einem anderen Menschen schon mal etwas so Schlimmes angetan, dass Sie diesen Menschen am liebsten nie wieder gesehen hätten? Ich denke an eine Frau, die unter Alkoholeinfluss Auto gefahren war. Sie geriet auf die Gegenfahrbahn und raste frontal in ein anderes Fahrzeug hinein. Dabei kamen ein Vater und sein kleines Kind ums Leben. Ich denke an einen Mann, der seine Frau mit ihrer besten Freundin betrogen hatte. Oder an den Finanzberater, der seine Kunden um Hunderttausende Dollar geprellt hatte. Jeder von ihnen hatte anderen großen Schmerz zugefügt, und alle scheuten sich, den Menschen, denen sie Unrecht getan hatten, gegenüber zu treten.
Jakob hoffte, dass sich der Zorn seines Bruders mit den Jahren gelegt hätte. Aber je näher er seiner Heimat kam, desto größer wurde seine Angst. Er schickte einen Teil seiner Viehherden als Friedensgabe voraus, um Esau milde zu stimmen. Doch an dem Abend, bevor er Kanaan erreichte, wurde Jakobs Angst übermächtig. In tiefer Not schrie er zu Gott, und Gott kam zu ihm.
Die Geschichte aus 1. Mose 32,22–32 erscheint im hebräischen Urtext ein wenig mysteriös. Dort lesen wir, dass Jakob die ganze Nacht mit einem Mann kämpfte. Doch gegen Morgen, wenn nicht schon lange vorher, wird Jakob klar, dass er mit Gott ringt. Ich frage mich jedoch, ob Jakob nicht auch in gewisser Weise mit sich selbst kämpfte – mit dem Mann, der er gewesen war, und dem Mann, der er einmal sein würde.
Haben Sie schon einmal mit Gott gekämpft? Ich schon, nämlich dann, wenn ich mich gefragt habe, ob ich Gott enttäuscht hätte, oder wenn ich das Gefühl hatte, dass Gott mich enttäuscht hatte. Tief verletzt oder frustriert habe ich mich dann an Gott gewandt, manchmal flach auf dem Gesicht liegend in der Dunkelheit, und manchmal habe ich auf langen Spaziergängen Gott meine Fragen entgegen geschleudert. Habe ich in diesen Augenblicken mit Gott gekämpft? Oder ließ Gott mich gewähren, damit ich Dampf ablassen konnte, bis ich schließlich erkannte, dass ich eigentlich mit mir selbst kämpfte?
Lesen Sie die Psalmen, dann werden Sie feststellen, dass eine große Anzahl der Psalmen Klagepsalmen sind – Klagelieder, die die Gedanken der Psalmisten, die mit Gott gekämpft haben, in Worte fassen. Wenn wir unsere Fragen, Enttäuschungen oder Zweifel vor unserem Schöpfer ausbreiten, kann das viel bewirken. Solange wir kämpfen, halten wir an Gott fest. Wir fordern Gottes Segen ein, so wie Jakob es tat. Und überrascht und freudig werden wir am Ende feststellen, dass Gott uns sein Erbarmen und seine Gnade schenkt, wenn wir nicht loslassen.
Nach diesem nächtlichen Ringen mit Gott wachte Jakob am nächsten Morgen als veränderter Mensch auf. Und als er seinem Bruder schließlich gegenübertrat, empfing er ganz unerwartetes Erbarmen. Für ihn ganz überraschend, nahm Esau sein ehrliches Bekenntnis und seinen Versuch der Wiedergutmachung an.
Gibt es in Ihrem Leben jemanden, dem Sie Unrecht getan haben, den Sie noch aufsuchen müssen, um das geschehene Unrecht wieder gut zu machen? Vielleicht haben Sie Angst vor dem, was geschieht, wenn Sie das tun. Jakob hatte auch Angst und war deshalb gezwungen, mit dem Mann, der er gewesen war, mit dem Mann, der er werden würde, und dem Gott, dem er vertraute, zu kämpfen. Durch den Kampf fand Jakob den Mut und die Entschlossenheit, zu tun, was Gott von ihm erwartete.
Danke, dass du mir gestattest, mit dir zu ringen, wenn ich verwirrt, zornig oder einfach nur ängstlich bin. Hilf mir, an dir festzuhalten, den Segen zu suchen und mich nicht von dir abzuwenden. Hilf mir, um Vergebung zu bitten, und selbst Vergebung zu gewähren. Lege mir die Menschen aufs Herz, mit denen ich mich versöhnen muss, und führe mich, wenn ich mich um Wiedergutmachung bemühe. Amen.
TAG 6
VOM GEFANGENEN ZUM PREMIERMINISTER
Kaum hatte Josef sie erreicht, da entrissen sie ihm sein vornehmes Gewand und warfen ihn in den leeren Brunnenschacht. Dann setzten sie sich, um zu essen. Auf einmal bemerkten sie eine Karawane mit ismaelitischen Händlern. … Sie kamen von Gilead und waren unterwegs nach Ägypten. Da sagte Juda: „Was haben wir davon, wenn wir unseren Bruder töten und den Mord an ihm verheimlichen? Nichts! Los, wir verkaufen ihn an die Ismaeliter“ (1. Mose 37,23–27).
[Jahre später sagten Josefs Brüder]: „Was ist, wenn Josef sich jetzt doch noch rächen will und uns alles Böse heimzahlt, was wir ihm angetan haben?“ … Aber Josef erwiderte: „Habt keine Angst! Ich maße mir doch nicht an, euch an Gottes Stelle zu richten! Was er beschlossen hat, das steht fest! Ihr wolltet mir Böses tun, aber Gott hat Gutes daraus entstehen lassen. Durch meine hohe Stellung konnte ich vielen Menschen das Leben retten. Ihr braucht also nichts zu befürchten. Ich werde für euch und eure Familien sorgen“ (1. Mose 50,19–21a).
Josef war der elfte Sohn Israels (Jakobs), aber ganz anders als die meisten jüngeren Söhne zu der damaligen Zeit war er Israels Lieblingssohn. Das wurde eines Tages offensichtlich, als Jakob mit einem langen, wunderschönen Gewand nach Hause kam, das er für Josef hatte anfertigen lassen. Darüber ärgerten sich Josefs ältere Brüder.
Und dann träumte Josef, dass sich seine Brüder eines Tages vor ihm verneigen würden. Hier ein guter Rat: Sollten Sie jemals träumen, dass Ihre Geschwister sich eines Tages vor Ihnen verneigen werden, behalten Sie das lieber für sich!
Josef hatte diesen Rat nicht beherzigt. Und eines Tages, als er seine Brüder aufsuchte, die mit den Herden auf eine neue Weide gezogen waren, beschlossen sie, ihn umzubringen. Zuerst warfen sie ihn in eine ausgetrocknete Zisterne, um ihn dort sterben zu lassen. Doch dann hatten sie eine bessere Idee: Wir verkaufen ihn einfach an eine Karawane ismaelitischer Sklavenhändler!
Aber das war erst der Beginn von Josefs Leidenszeit. Die Sklavenhändler verkauften ihn an einen ägyptischen Beamten mit Namen Potiphar. Josef übte sich in Demut und strengte sich an, gute Arbeit für seinen Herrn zu leisten, aber Potiphars Frau fand Interesse an ihm. Als Josef ihre Avancen zurückwies, beschuldigte sie ihn der versuchten Vergewaltigung, und Josef kam ins Gefängnis. Josef war vom verwöhnten Lieblingssohn eines wohlhabenden Viehzüchters zu einem Sklaven abgestiegen, der in einem ägyptischen Gefängnis saß. Sein Leben hatte sich in einen Albtraum verwandelt.
Geschichten wie die von Josef geschehen auch in der heutigen Zeit. Einundzwanzig Jahre lang saß Darryl Burton im Staatsgefängnis von Missouri für einen Mord, den er nicht begangen hatte. Wichtige Beweise für seine Unschuld hatte die Staatsanwaltschaft zurückgehalten. Anfangs war er verbittert, zornig auf ein System, das ihn zu Unrecht verurteilt hatte. Aber eines Tages schrieb er einen Brief an Jesus mit folgenden Worten: „Jesus, wenn du tatsächlich da bist und mir hilfst, hier herauszukommen, werde ich dir