Das entfesselte Wien. Hugo Bettauer
Das entfesselte Wien
Hugo Bettauer
SAGA Egmont
Das entfesselte Wien
Copyright © 1924, 2018 Hugo Bettauer und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711503027
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 2.0
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1. Kapitel
Im nizza-express
Ein seltsames, banges Gefühl, eine Angst, die keine konkrete Erklärung fand, ein Grauen, das den Atem schwer macht und die Sinne trübe, kroch in Paul Mautner auf, als der „King Edward“ in den Hafen von Triest einfuhr.
Der schlanke, große, auffallend hübsche Mann mit dem dunklen Teint und der scharfen Hakennase, deren Energie im Gegensatz zu den weichen, fast verträumten Augen stand, war, als die Gepäckträger ihn umringten, so verwirrt, von Beklemmung so bedrückt, daß ihm klare Disposition, die ihn sonst nur selten verließ, abhanden kam und er willenlos mitansah, wie drei beutegierige Facchini sich seines Gepäckes bemächtigten.
Mühsam raffte er sich auf, riß sich zusammen und gab Auftrag, den Kajütenkoffer und das Handgepäck auf ein Autotaxi zu verladen. Ließ es geschehen, daß die Gepäckträger ihn zehnfach überhielten, fuhr im Dunkel des lauwarmen Abends zum Bahnhof, ohne zu wissen, ob er den Schnellzug nach Wien noch erreichen würde.
Er kam zurecht, hatte sogar nach Aufgabe des Gepäckes und Lösung der Fahrkarte noch eine Stunde Zeit. Wollte wieder ein Auto besteigen, um in die Stadt zu fahren und zu soupieren, unterließ es aber nach Musterung seiner Brieftasche.
Hellauf lachend stellte er fest, daß er kaum zehn Lire in Kupfer und Silber, zwanzig Dinare für das jugoslawische Visum und zwei Hunderttausendkronen-Scheine besaß. Die Beklemmung wich und machte heiterer Betrachtung Raum. Er konstatierte, daß er seit zehn Jahren, seit dem Tag, da er als Einjährig-Freiwilliger-Korporal in den Krieg gezogen war, nicht mehr so abgebrannt gewesen wie heute. Aber er stellte das nicht mit Unbehagen, hinter dem die Frage „Was nun?“ lauert, fest, sondern mit der Sicherheit des reichen Mannes, dem das Bewußtsein, kein Geld in der Tasche zu haben, prickelnder Witz ist.
Die zehn Lire wurden in ein Abendessen im Bahnhofrestaurant angelegt, dann sicherte sich Paul Mautner, der kein Bett im Schlafwagen bekommen konnte, einen Eckplatz in der ersten Klasse, und der Zug fuhr nordostwärts in die Nacht hinaus.
In schlaflosen Stunden, umgeben von schnarchenden, röchelnden, sägenden Menschen, kurbelte Paul Mautner seinen Lebensfilm zurück, sah sich als Knabe im wohlbehüteten Hause, als Gymnasiast mit glänzenden Zeugnissen, aber in steter Gefahr, wegen eines Streiches, einem „Nichtentsprechend“ in „Sitten“ relegiert zu werden, sah sich als Student auf der Rampe Fausthiebe in die unsäglich dummen, verschwommenen, wasserblauäugigen, wimmerlbesäten Gesichter bemützter Burschen austeilen. Und dann: Das Grauen der polnischen Schlachtfelder, Ruhr, Schußverletzung, Spital, neue Kämpfe, die erste, die zweite, die dritte Tapferkeitsmedaille, Tod des Vaters, dann der Mutter, Urlaubstage im fieberheißen Leben der Großstadt, die nicht wissen wollte, daß ihre Lieder ein Todesröcheln waren, Offensiven auf dem Balkan, endlose Bahnfahrten quer durch Mitteleuropa bis zu den Steinfeldern des Karstes, durch die jetzt der Zug brauste.
Und dann, mit einem Ruck, von heute auf morgen, ein anderes Bild, ein anderes Leben. Ade Krieg, ade Universität, die väterliche Erbschaft behoben, Sprung in das Erwerbsleben, die Felduniform mit dem Kontorrock des Bankbeamten getauscht.
Die jugoslawische Grenzrevision unterbrach den Erinnerungsfilm. Hinter Marburg versuchte Mautner zu schlafen, aber immer wieder flogen die Gedanken zurück. Leicht und mühelos war ihm das Leben nach dem Krieg geworden. Mit hellen klugen Augen hatte er, statt zu räsonieren und zu jammern, die Geschehnisse erfaßt und in ihrer Bedeutung erkannt. Sagte sich: „Dumm die Ratte, die das sinkende Schiff nicht verläßt“ und ergriff die Flucht. Nicht die Flucht aus der weichen, sinnlichen, auch in ihrer Verwahrlosung noch schönen und sympathischen Stadt, sondern die Flucht vor der Krone. Verwandelte das ererbte Geld in die neuen Tschechokronen, benützte die Erfahrung, die er als kleiner Bankbeamter sammeln konnte, um zu spekulieren, das jeweilige Modepapier zu kaufen, den Wegen seines Chefs nachzuschleichen, zu tun, was dieser tat.
Ein paar Nackenschläge, und er kam hinter eine wertvolle Wahrheit: Sich mit den großen Börsenpiraten gut stellen, sie naiv und scheinbar gutgläubig aushorchen und dann nie tun, was sie rieten. Weil sie alle logen, lügen mußten, um ihre Pläne nicht zu verraten, im trüben Wässerchen fischen zu können. Wenn einer von den Großen ihm auf die Schulter klopfte und zuflüsterte, er möge Staatsbahn kaufen, es aber um Himmels willen nicht verraten, sondern nur für sich, ganz bescheiden ein paar Schlüsse machen, so verdeutschte Paul Mautner den Börsenjargon:
„Ich will aus Staatsbahn aussteigen, werde also zehn Leuten, die an mich glauben, raten, zu kaufen und dabei um tiefste Diskretion bitten. Darauf wird jeder von den zehn kaufen und am andern Tag, damit der Kurs nicht stillsteht oder gar zurückgehe, mindestens zehn Freunden zuflüstern, sie mögen Staatsbahn kaufen, es gehe etwas vor. Ideales Schneeballensystem, während dessen Auswirkung ich mit meinen Paketen heraus kann.“
Paul Mautner aber, der die Geheimsprache kannte, reagierte auf den guten Rat des Großen, indem er entweder verkaufte oder zwei Tage wartete und dann à la Baisse spielte.
Logisches Denken, klare Beurteilung, führte Paul zu der Erkenntnis, daß es auf dieser Welt nur mehr einen Gott und eine Macht gab: den Dollar! Im Frühjahr 1922 riskierte er das ganze Vermögen, das er schon erspielt hatte, setzte alles, was er besaß, was er an Kredit auftreiben konnte, auf eine Karte: den Dollar. Und sein Vermögen verzehn-, verhundert-, vertausendfachte sich. Er trat aus der Bank aus, widmete seine ganze Nervenkraft dem Spiel, und als die Krone stabil war, ließ sich sein Vermögen nur mehr nach Milliarden berechnen.
Fürstliche Ausstattung seiner Junggesellenwohnung am Brahmsplatz, Auto, die schönste Geliebte, Geberlaunen eines Nabobs. Ungeheurer Verbrauch spornte ihn zu neuen Spekulationen an, erfolgreich ritt er Attacken gegen die Reichsmark, begann am Faschingsende eine brutale Offensive gegen den französischen Franc. Bis er nach hundert durchrechneten, im Fieber des Spieles erglühten Tagen und hundert durchzechten, durchtanzten, mit Frauen durchjubelten Nächten mit den Nerven fertig war, sich erinnerte, daß er sechs Jahre keine andere Luft als die weiche schlaffe Wiens geatmet, von neuralgischen Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit gepeinigt, über Nacht dem dringenden Rat des Arztes gefolgt und eine umfangreiche Italienreise angetreten hatte.
Energisch, wie er in allem war, nahm er auch die Reparatur seiner Nerven in Angriff. Ließ alles liegen und ruhen, gab seinen Bankiers nicht einmal die Postadresse, ließ sich keine Zeitungen nachschicken, fuhr ohne Aufenthalt nach Neapel und von dort nach dem göttlichen Capri.
Verlebte auf der paradiesischen Insel in milder Wärme köstliche Wochen der Ruhe, nur hie und da weise unterbrochen durch ein Abenteuer mit einer schönen Italienerin oder birkenschlanken Amerikanerin, wollte nichts wissen von Wien und der Börse, von Hausse und Baisse, von Franc und Poincaré. Bis die festgesetzte Zeit um war und er gesund, frisch, ein neuer Mensch, Capri verließ, um mit dem „King Edward“ von Neapel rund um die Halbinsel nach Triest zu fahren. Mit Absicht hatte er keinen Schnelldampfer, sondern ein langsames, mehr für Fracht als für Passagiere eingerichtetes Schiff gewählt, weil er nicht ohne Übergang in den Trubel einer Luxuswelt springen, sondern gemächlich Abschied vom Vergnügungsurlaub nehmen wollte.
So knapp war die Zeit zwischen Ankunft in Neapel und Abfahrt des „King Edward“ gewesen, daß er nicht einmal mehr Gelegenheit bekam, eine Zeitung zu kaufen.