Das entfesselte Wien. Hugo Bettauer
2. Kapitel
Krach!
In Graz gab Mautner eine dringende Depesche an seinen Diener auf, der ihn mit dem Auto am Bahnhof erwarten sollte, dann endlich schlief er ein. Schwere, dumpfe Träume quälten ihn. Er fuhr mit dem Auto in eine dunkle Schlucht, wurde aus dem Wagen geschleudert, kroch über Steine uud Felsblöcke, Menschen flohen vor ihm her, er rief um Hilfe, aber eine Hand preßte ihm die Kehle zu. Unsichtbare Arme streckten sich nach ihm aus, warfen ihn in eine Höhle, in der er tiefer und tiefer sank, ohne Grund erreichen zu können.
Jäh fuhr er aus dem Schlaf empor. Grauer Nebel kündigte den neuen Tag an, drei Stunden noch und er würde in Wien sein. Und nun wieder das beklemmende Gefühl, die Angst vor Unbekanntem, der Alpdruck, der sich ihm auf Brust und Schläfen legte.
In Gloggnitz wollte Paul Mautner eines der frisch aus Wien eingelangten Morgenblätter kaufen, kam aber zu spät, es waren alle schon vergriffen. Über die Schulter seines Nachbarn las er die Überschriften der ersten Seite: Eine neue Hetzrede in der französischen Kammer, Urteil gegen einen sächsischen Minister, Hitler-Prozeß, Erdrutsch in Amalfi, Riesenstreiks in London.
Könnte ein Blatt vom Vormonat, vom Vorjahr sein, dachte er gähnend und begann Gesicht und Hände mit Kölnisch Wasser zu waschen, um die häßliche, schmutzige Nacht zu verscheuchen. Ohne Verspätung sauste der Zug durch Wiener-Neustadt, Baden, Mödling, rauchende Schlote verkündeten die Nähe der Großstadt, über hundert Weichen polternd ging es in den Südbahnhof hinein.
Der Diener Eduard stand auf dem Perron bereit, begrüßte den Herrn mit respektvoller Freude, übernahm Gepäckschein und Handgepäck, führte Mautner hinunter zum offenen Fiatwagen, der erst im Winter angeschafft worden war. Auch der Chauffeur bemühte sich, Jubel zu zeigen, obwohl er mit Wehmut der vielen erträgnisreichen Schwarzfahrten der letzten Wochen gedachte.
Rasende Eile überkam Mautner. Kaum daß er sich Zeit nahm, das heiße Wasser aus der Brause über sich strömen zu lassen. Hastig frühstückte er, schenkte den Montagszeitungen keinen Blick, trieb den Chauffeur zur eiligen Fahrt nach der Renngasse an, in der sein Bankier das Kontor hatte.
Der große Raum, in dem die Beamten und Beamtinnen des Bankhauses saßen, war in Stille gehüllt. Erster Eindruck beim Betreten: Eine Trauerversammlung, bei der die Leidtragenden und die Gäste flüstern, gedämpft sprechen, auf den Fußspitzen gehen. Ein paar Herren, die Mautner flüchtig kannte, standen vor dem Schalter, nicht wie früher eifrig mit dem Börsendisponenten plaudernd, sondern allein, ratlos, unschlüssig. Irgendwie sahen sie zerklüftet, verstört aus.
Mautner fühlte, wie sich neugierige, forschende Blicke auf ihn richteten, kam sich, ohne zu wissen warum, wie ein ertappter Sünder, ein an den Pranger Gestellter vor.
Der Prokurist, Herr Rappaport, begrüßte ihn mit stummem Händedruck. Hob dann die Achseln hoch, machte eine heftige Geste mit den Händen, sprach gedämpft:
„Sie waren verreist, wir haben Sie vergebens gesucht! Das Unglück kam ganz unerwartet. Man darf nicht verzweifeln, es wird gesagt, daß die Großbanken eingreifen werden. Auch Sie werden sich noch erholen.“
Blitzartig kam Klarheit in Mautner. Er wußte das Wesentliche, ohne es gehört zu haben: Irgendeine Katastrophe hatte sich ereignet, ein Börsenkrach, vielleicht eine Riesendefraudation beim Bankhaus Kohorn, Selbstmord des Chefs. Es fröstelte ihn, aber er beherrschte sich, fragte nicht, sondern sagte mit gewaltsamer Ruhe:
„Es wird so schlimm nicht sein. Aber ich möchte jetzt Herrn Kohorn sprechen.“
Schon ging die Tür zum Chefzimmer auf, der weißhaarige kleine Herr Kohorn stand an der Schwelle, rief Mautner zu sich herein.
„Glauben Sie mir, der Tag, an dem ich Ihre Papiere auf den Markt werfen mußte, war der schmerzlichste meines Lebens. Es ging nicht anders, ich wäre sonst mitgerissen worden. Sie waren immer mein bester und angenehmster Kommittent, werden es sicher wieder werden. Und auf die dreihundert Millionen, die Sie eigentlich nach dem Verkaufe noch zuschießen müßten, kann ich warten.“
Dann erzählte er von dem plötzlichen, unerwarteten Steigen des Franc, dem unaufhörlichen Rückgang an der Wiener Börse, der plötzlich in eine Panik ausgeartet war.
„Alles stürmte auf uns herein, wir mußten verkaufen um jeden Preis.“
Schwere Schicksalsschläge wirken im ersten Ansturme weniger vehement als die üblichen Nadelstiche. Mautner saß bleich, bewegungslos, ohne mit der Wimper zu zucken, seinem Bankier, Herrn Israel Kohorn, gegenüber, ließ die Ziffern an sein Ohr rauschen, prüfte mit eiskaltem Blicke die Bücher und Bogen, und nur tiefinnerlich sprach sein zweites Ich höhnend und monoton die Worte:
„Ich bin ein Bettler, ich bin ein Bettler!“
Enorme Engagements in Franc, große Effektenbestände mit kaum vierzigprozentiger Deckung, die Berg und Hütten, die er knapp vor seiner Abreise gekauft hatte, ein Paket von hunderttausend Lombard- und Eskomptebank, die um die Hälfte gestürzt waren, kein Zweifel: er war fertig, total fertig.
Herr Kohorn stöhnte:
„Ich mußte Sie exekutieren, es blieb mir nichts anderes übrig, ich kann mich selbst nur mit Mühe und mit Hilfe von Verwandten aufrechthalten. Schließlich, Sie sind jung, haben wahrscheinlich zu Hause noch Effektenbestände und Dollars. Sie werden den Verlust verschmerzen. Ich aber, ich bin ein alter Mann und muß froh sein, wenn mir soviel bleibt, daß ich wie ein Schnorrer leben kann.“
Mautner bestieg sein Auto.
„Fahren Sie zur Börse — nein, nicht zur Börse. Nach Hause — nein, fahren Sie zum Autohaus auf dem Schwarzenbergplatz.“
Die Sonne leuchtete frühlingsmilde, die Menschen freuten sich ihrer, sahen fröhlich aus, die Mädchen schienen nach langem Winterschlafe zu neuer Schönheit erblüht zu sein.
Mautner sprach im Takte der Wagenschwingungen lautlos in sich hinein:
„Ich bin ein Bettler, ein Bettler bin ich!“ Und dann: „Herr Israel Kohorn glaubt, ich habe Effekten und Valuten zu Hause. Nichts habe ich, nichts! Nicht ein Papier und nicht einen Dollar! Alles ließ ich schwimmen, alles tummelte auf dem Markte, ich bin ein Bettler mit zweihunderttausend Kronen in der Brieftasche. Und etlichen hundert Millionen Börsenschulden, die ich nicht werde zahlen können.“
In der großen Automobilhalle riß sich Mautner zusammen, spielte den Gleichgültigen, Überlegenen.
„Ich werde auf längere Zeit ins Ausland gehen, möchte meinen Wagen nicht stehen lassen. Was können Sie bieten? Er ist fast neu, ich habe vor drei Monaten 300 Millionen für ihn gezahlt.“
Ein halbes Dutzend Autogeier versammelten sich um Mautner. Erzählten Erstaunliches von der Wirkung des Börsenkrachs. Hunderte konnten ihr Auto nicht mehr halten, boten zu jedem Preis aus. Von festem Angebot könne keine Rede sein, nur in Kommission wolle man den Wagen nehmen. Außer, der Herr würde sich zu exzeptionellem Preis entschließen.
Mit einem Scheck von 80 Millionen verließ Mautner die Halle, das Auto blieb gleich dort, dem verzweifelten Chauffeur sicherte er dreimonatige Abfertigung zu.
3. Kapitel
Frau sonja gordon
Im Parisien. Immer wenn die Jazzbande mit ihrem Höllenlärm begann, zuckten die Paare von ihren Sitzen auf, glitten in Verkrampfung einher, tanzten bis zum schrillen Schluß, blieben dann stehen, um durch Händeklatschen Fortsetzung zu erzwingen, tanzten weiter.
Die Gesellschaft der Frau Sonja Gordon aber tanzte nicht unten im Parterre, sondern hinter ihrer Loge. Neugierige Blicke flogen von allen Seiten Frau Sonja entgegen, die perlen- und diamantenübersät in halber Nacktheit an der Brüstung saß und sich den Hof machen ließ.
Irgendwoher, irgendwie hatte die europäische Revolutionswelle Frau Sonja Gordon nach Wien geschwemmt. Blendende Schönheit mit rabenschwarzem Haar, fabelhafter Reichtum, fürstliches Auftreten. Ihre russisch-tatarische Abstammung unverkennbar. Der gefallene oder ermordete