Psychotherapeutisches Arbeiten mit alten und sehr alten Menschen. Eva-Marie Kessler
aus der Perspektive seiner Potenziale und Entwicklungschancen betrachtet wurde. Neben einer einsetzenden Institutionalisierung der gerontologischen Grundlagenforschung war dies auch der Beginn der sog. Verhaltensgerontologie, die ebenfalls als Interventionsgerontologie bezeichnet wird. In diese Zeit fällt die Gründung der Boston Society for Gerontologic Psychiatry im Jahr 1962 in den USA (Kessler und Peters 2017). Sie kann als ein erster Schritt einer systematischen Etablierung eines gerontopsychiatrisch-psychotherapeutischen Forschungsfeldes betrachtet werden. Die psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten wurden nun grundsätzlich positiver eingeschätzt. Teilweise existierten allerdings weiterhin noch defizitorientierte Konzepte wie das Regressionskonzept (Alter als Rückentwicklung auf frühere Entwicklungsstufen) und »Alter als zweite Kindheit«.
Von einer solchen Auffassung grenzte sich deutlich der Geriater und Gerontologe Robert Butler in seinem 1963 erschienen Artikel »The life review: an interpretation of reminiscence in the aged« ab. Er beschrieb die Lebensrückschau als entwicklungspsychologisch bedeutsamen psychischen Mechanismus im Alter – und nicht, wie bis dahin üblich, als Ausdruck kognitiven Verfalls. Damit gab er den Impuls zur Entwicklung der Lebensrückblicktherapie (
Mit Beginn der 1970er-Jahren zog, vorangetrieben von der deutschen Psychologin und Gerontologin Ursula Lehr (2013), die Verhaltens- und Interventionsgerontologie auch nach Deutschland ein. Wesentliche Grundlage hierfür waren neben den mittlerweile umfangreichen Ergebnissen aus interdisziplinären, langjährigen Längsschnittsstudien die Lerntheorie, sowie die Anfang der 1960er-Jahren unter anderem von dem US-amerikanischen Gerontopsychologen Havighurst entwickelte »Activity theory« (1963). Danach ist für Lebenszufriedenheit und ein positives Selbstbild im Alter der Grad der sozialen Eingebundenheit und die Aufrechterhaltung früherer Aktivität von entscheidender Bedeutung. Der Fokus der Verhaltens- bzw. Interventionsgerontologie lag primär auf Gedächtnistrainings, sozialer Teilhabe, Gesundheitsförderung, Rehabilitation sowie Angehörigen- und Wohnberatung. Zugleich wurden schon erste verhaltenstherapeutische Ansätze für Depressionsbehandlung für die Gerontopsychiatrie erprobt (Kessler und Peters 2017).
2.3 Eine eigene Identität des Fachgebiets bildet sich ab den 1980er-Jahren
Mit Beginn der 1980er-Jahre stießen in den USA Fragen der Gerontopsychiatrie nach und nach auf ein immer breiteres Forschungsecho. Dies manifestiert sich beispielsweise in dem 1980 in erster Auflage erschienenen »Handbook of Mental Health and Aging« (Sloane und Birren 1980). Auch finden sich ab den frühen 1980er-Jahren ausführliche Abhandlungen über Psychotherapie mit älteren Menschen durch die aufkommende Verhaltenstherapie. Beispielhaft sind hier das 1981 publizierte Behandlungsmanual »Depression in the elderly« von Gallagher Thompson und das 1986 erschiene Lehrbuch von Bob Knight »Psychotherapy with older adults« zu nennen. Auch die interpersonelle Psychotherapie (Hinrichsen 2017) wurde bereits als besonders geeignete Psychotherapieform für das höhere Lebensalter diskutiert, weil sie qua Therapierational auf die Bearbeitung von alterstypischen Themenbereichen hin ausgerichtet ist (
In Deutschland war es ein Vertreter der Psychoanalyse, der an der Universität Kassel angesiedelte Hartmut Radebold, der 1983 mit seinem Buch »Gruppenpsychotherapie im Alter« den weiteren Anstoß für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der psychosomatisch-psychotherapeutischen Behandlung älterer Patienten gab. Dabei ging es zunächst darum, die Kernelemente der klassischen psychodynamischen Therapie auch bei dieser Patientengruppe anzuwenden, d. h. mit Deutung und Einsicht – und damit konfliktzentriert – zu arbeiten. Im Mittelpunkt stand die Generation älterer Menschen mit frühen Traumatisierungen im Zusammenhang mit Kriegserfahrungen, Flucht und Vertreibung. Dieser therapeutische Schwerpunkt wurde seit Anfang der 1990er-Jahre durch Fokaltherapien ergänzt, in denen der Fokus auf den auf Verlusterfahrungen im Alter zurückgehenden Aktualkonflikt gelegt wurde (Heuft 1993). An dieser Stelle sei angemerkt, dass davon auszugehen ist, dass ältere Patientinnen in der heutigen Versorgungspraxis kaum mit psychoanalytischen Langzeittherapien behandelt werden (Peters und Lindner 2019). Sowohl in der Versorgung als auch im wissenschaftlichen Diskurs stehen aktuell vielmehr strukturorientierte Kurzzeittherapien (
Ein für die Entwicklung der Gerontologie wichtiges Datum stellt das Jahr 1989 dar, in dem das international seit den 1970er-Jahren aktive und gut wahrgenommene deutsche Forscherpaar Margret und Paul Baltes das Modell der »Selektiven Optimierung mit Kompensation« (SOK) vorstellte (
Kasten 2.1: Modell der Selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK)
Das SOK-Modell basiert auf der Annahme, dass im Alter eine aktive Anpassung an zunehmende körperliche, kognitive und soziale Verluste möglich ist. Selektion, Optimierung und Kompensation (SOK) sind dabei die drei wesentlichen Komponenten, die ein erfolgreiches Altern (»successful aging«) begünstigen und mit subjektivem Wohlbefinden einhergehen.
• Selektion bedeutet, wichtige – positive und persönlich bedeutsame – Ziele zu verfolgen, anstatt sämtliche Ziele auf einmal erreichen zu wollen. Das kann für eine ältere Person bedeuten, sich auf ihre wichtigen Vorhaben und Potenziale zu fokussieren und nicht mehr erreichbare Vorhaben aufzugeben, oder die eigenen Ansprüche zu senken. Damit schützt Selektion im Alter davor, sich in Anbetracht knapper werdender Ressourcen körperlich und psychisch auszulaugen und Selbstwert schwächende Frustrationserlebnisse zu vermeiden. Selektion ist bedeutsam, wenn Verluste drohen (proaktive Selektion) oder bereits eingetreten sind (reaktive Selektion). Ein Beispiel für Selektion ist ein älter werdender Langstreckenläufer, der mit zunehmendem Alter das Laufen nicht aufgibt, aber mehr kurze Strecke läuft.
• Optimierung bedeutet, bestehende Fähigkeiten zu nutzen oder zu verbessern. Die Umsetzung von Optimierungsprozessen wird durch eine fördernde, unterstützende Umwelt und die Bereitstellung von Möglichkeiten begünstigt. Ein Beispiel für Optimierung ist eine ältere Frau, die ihre bestehenden sozialen Kontakte im Alter weiter intensiviert und ihr Talent zum Texteschreiben durch Teilnahme an Online-Schreibkursen noch verbessert.
• Kompensation ist dann notwendig, wenn Fähigkeiten eingeschränkt sind oder verloren gehen und die bisherigen Strategien nicht ausreichen, um die Verluste auszugleichen. Kompensation kann beinhalten, technische Hilfsmittel wie einen Rollator oder Tablets einzusetzen, oder mehr auf Unterstützung durch andere zurückzugreifen. Kompensation kann sich auch auf das Training und die Nutzung neuer Fertigkeiten beziehen, wie etwa technische Kompetenzen, um Videokonferenzen mit Freunden durchführen zu können, wenn man in seiner Mobilität eingeschränkt ist.