Tyra, die Märcheninsel. Karl Friedrich Kurz
gewacht und dafür gesorgt, daß die Übeltäter bestraft werden können. Das Schicksal hat die Kinder mit lauen Lüften und Sommerwärme dazu verleitet, ihr erstes Seebad zu versuchen. Da das rote Hemd des Bauern Finn in der ganzen Landschaft unsichtbar blieb, vergaßen die Kinder sehr bald die Schiffskatastrophe und das Wüten der Naturgewalten. Und dort unten baden sie jetzt.
Das paßt alles vortrefflich und hätte sich gar nicht besser fügen können. Ihre Kleider liegen am Strande. Zu beiden Seiten stehen hohe Felsen, gleich Gefängnismauern. Weiter oben liegen große Steinblöcke, dunkles Erlengebüsch steht da. Diese Gegend ist zu Hinterhalt und Überfall wie geschaffen. Sie riecht förmlich nach Blutvergießen und Hinrichtung.
Ja. Und hiermit soll es nun vollzogen werden.
Ottny streift ihrem Bauern den braunen Werktagskittel übers rote Wollhemd. Finn Moen greift in die Tasche, findet eine schwarze Tabaksrolle und beißt davon, um genügend Mut und Entschlossenheit zu gewinnen, einen unmenschlich großen Priem ab. So zieht er los mit seiner gierigen Birkenrute und spuckt gewaltig. Er schleicht sich hinter Stein und Busch heran. Jetzt ist er unten.
Er liegt hinter einem dunklen Erlengestrüpp. Nur wenige Schritte vor ihm hüpfen die gelben nackten Kinder — Gott bessere es! —, schmale, magere Kinderleiber mit dünnen Gliedern und allzu dicken Bäuchen. Die Schulterblätter stehen ihnen wie kleine Engelsflügel aus dem Rücken hervor — wie erbärmliche, kahlgerupfte Flügelstümpfchen. Man kann im harten Sonnenlichte alle die gebogenen Rippen zählen.
„Tröste mich — wie mager sie doch alle sind!“ seufzt der Bauer Finn.
Und nun stellt er sich vor, wie er im nächsten Augenblicke hinter den Zweigen hervorspringen wird. Er stellt sich sehr genau vor, wie seine geschmeidige Birkenrute auf diese nackten, ausgemergelten Kinderleiber niedersausen wird … Da schießt ihm plötzlich das Wasser in die Augen. Und der Himmel verdunkelt sich. Und das Meer rauscht wie von unendlichen Tränen. Und der Bauer Finn schluckt …
Der Bauer Finn drückt in tiefer Beschämung sein Gesicht ins Gras, und er schlägt mit seiner Birkenrute auf den Boden; und er bohrt mit seiner ungeheuer großen Zehe ein Loch in den Sand.
„Ja, bessere mich! Was soll aber nun das bedeuten?“ fragt das Weib Ottny oben am Fenster. „Ja, sieh nun den Bauer — dort liegt er genau wie jeder andere Seehund! Er ist nicht einmal imstande, ein paar Kinder zu züchtigen…“
So redet Ottny vor sich hin und verachtet solches Übermaß unmännlicher Weichheit.
Wenn aber der Bauer da liegt und mit seinem Stock auf den Erdboden klopft, merken es natürlich die Kinder bald. Sie holen ihre Kleider und laufen davon. Und deshalb wird es nichts aus dem Strafgericht. Der Bauer begibt sich ins Haus zurück.
„Das sieht dir wieder vollkommen ähnlich in deinem Größenwahn“, sagt Ottny.
„Meinst du das?“ fragt Finn. „Nun sollst du aber doch nicht glauben, daß ich weniger wütend bin als vordem. Nein—schinde und brenne mich—, das ist durchaus nicht der Fall. Sondern dieses ist die Ursache: wie konnte er sie denn schlagen, wenn sie splitternackt dastanden? Nein, Weib! Es wird dir niemals gelingen, einen Unmenschen aus mir zu machen!“
„Nein“, sagt das Weib zum gußeisernen Ofen. „Nein, nein — denn er ist nämlich ein Kujon und Feigling, dieser Bauer Finn …“
„Glaubst du vielleicht das?“ fragt der Bauer leise und unheimlich.
Und wie ihm so der Rücken Ottnys nichts als kalte Verachtung und giftige Aufreizung entgegenströmt, ärgert er sich noch mehr über die Tücken des Lebens. Auf einmal kann er nicht anders und muß jetzt seine Birkenrute schwingen. Da hilft alles nichts — und er trifft damit wahrlich das Weib Ottny.
Finn sagt: „Dieses ist für dein unchristliches Maul — und dieses ist also für meine Sonntagshose!“
Das Weib Ottny wird sogleich beleidigt, heulte auf und begibt sich in die Kammer, seinen Zorn abfließen zu lassen.
Der Bauer Finn, durch seine eigene Tat überwältigt, verläßt ebenfalls die Stube. Da brennt natürlich die Hafergrütze im Topf gründlich an und verbreitet Rauch und üble Düfte …
Der Himmel aber lacht unverdrossen weiter, und das Meer dehnt sich und wird nicht müde, zu strahlen in eitler Selbstbewunderung. Die Kinder sind unter das umgekehrte Boot gekrochen.
„Was wollte denn Finn am Strande?“ fragt Harald.
In Haralds großen Augen spiegelt sich der weite Himmel und das Meer darunter. Er versucht mit seinem Messer einen Riß im Boot zu erweitern. „Warum lag er da und klopfte mit dem Stock auf den Boden?“ fragt er.
Die Kinder raten hin und her. Sie meinen, daß die Erwachsenen sich manchmal recht töricht benehmen und ganz unbegreifliche Taten verrichten. Am allerwenigsten achten sie den Bauer Finn mit seinem roten Hemd, dem großen Bart und der Steintreppe.
„Jetzt wollen wir ‚Haus‘ spielen“, schlägt ein Mädchen von fünf Jahren vor. „Wir spielen Kinderkriegen und Taufefest“
Aber nein, die anderen haben heute zu solchem keine Lust.
„Monrad soll eine Geschichte erzählen“, befiehlt Hjördis.
Monrad erzählt eine Geschichte. Oh, eine vornehme Geschichte vom Königsschloß und von der Prinzessin, die aus fernem Lande gekommen ist, den Kronprinzen zu heiraten. „Aber er will sie nicht haben“, sagt Monrad.
„So. Will er vielleicht nicht?“ fragt Hjördis.
„Nein, denn er liebt ja schon eine andere.“
„Eine andere?“
„Ja. Er liebt die Prinzessin Hjördis von Tyremoen. Jetzt hat er sich heimlich aus dem Schloß geschlichen und auf den Weg gemacht …“
Diese Geschichte gefällt den Kindern. Aber Hjördis bezweifelt sie.
„Das lügst du! Er kann doch nicht davonschleichen. Denn alle Leute im ganzen Reich kennen ihn …“
„Er wird sich wohl eine große blaue Brille aufgesetzt haben, wie Lehrer Klagg“, sagt Monrad.
Aber Hjördis darf sogar ihrer Mutter, der scharfen Ottny, die Stange halten. Sie ist ein mündiges Mädchen und von klarem Wirklichkeitssinn erfüllt.
„Jetzt glaube ich aber, Mensch …!“ ruft Hjördis und lacht.
„… Er segelte mit seinem großen Schiff nordwärts“, erzählt Monrad. „Und er kam bis an den Hernessund. Da stand auf dem Felsen bei Skarholmen ein Riese. Und der Riese schleuderte einen Stein, so groß wie ein Haus. Und er traf des Prinzen Schiff. Er hatte drei Augen …“
Die Geschichte gefällt den Kindern immer besser. Aber Hjördis lacht … „Hihihi! Und der Riese, das bist wohl du, Monrad …!“
Da bekommt Monrad heiße Ohren, und sein Blick verschleiert sich. Er schweigt verwirrt und schamvoll.
Und damit ging diese Geschichte aus. Sie war vielleicht noch nicht zu Ende. Sie wurde nur abgebrochen …
Handel und seefahrt
Man muß wissen, daß Tyremoen ein kleiner Ort ist: drei Höfe und eine Kätnerhütte.
Hinter Finn Moens Stall, ein wenig den Berghang hinan, liegt das Gehöft Olaj Höigaards. Fünf Kühe und ein Schweinchen, dazu ein Dutzend Schafe. Dort ist der blonde stämmige Ove zu Hause. Ove, der einzige Sohn und Erbe, Ove, der nicht länger ein Kind ist. Hinter Höigaard und noch ein Stück weiter den Hang liegen die mageren Wiesen und steinigen Äcker von Sörbö.
Jon Sörbö ist klein und grau. Er mag jetzt vierzig Jahre alt sein, und war schon mit zwanzig klein und grau — ein schmutziges Graubraun, das nicht nur die Haare, sondern den ganzen Mann überzogen hat. Jenny, sein Weib, hat einen unförmlichen Bauch und einen Herzfehler. Den Herzfehler hatte Jenny, wie man mit Bestimmtheit weiß, schon als unschuldiges Mädchen. Das mit dem Unterleib hingegen mag mit dem Kindersegen