Heute beißen die Fische nicht. Ina Westman

Heute beißen die Fische nicht - Ina Westman


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Paar und nicht dem Kind, aber ich gebe nicht nach, nicht mehr. Ich will Fanni Tag und Nacht in meiner Nähe haben, ohne ihren Atem kann ich nicht einschlafen. Joel fühlt sich durch Fannis Bewegungen und Geräusche gestört, immer öfter schläft er auf einer Matratze im Wohnzimmer, in windstillen Nächten sogar im Boot. Ich kann ohne Joel schlafen, aber nicht ohne Fanni.

      Leise stehe ich auf und gehe auf die Terrasse. Großvater sitzt auf dem Buddha-Felsen, so wie fast jeden Morgen. Das Gesicht auf die offene See und den Sonnenaufgang gerichtet, meditiert er dort oft. Er wacht früh auf, so wie ich. Dann tappt er zum Felsen, lässt sich im Lotussitz vor der kleinen Buddha-Statue nieder und kehrt eine Stunde später zurück, um Morgenkaffee oder -tee zu trinken, bevor er sich in seine eigene Hütte zurückzieht, um weiter zu meditieren. Er lebt dort still vor sich hin, ohne sich um uns zu kümmern.

      Ich störe ihn nie bei seiner Morgenmeditation. Ich sitze auf der Terrasse, trinke Kaffee und genieße die Stille, danach trinken wir zusammen eine Tasse Kaffee oder chinesischen Tee und reden über dies und das, Hauptsache, wir haben zuvor in aller Ruhe für uns sein dürfen.

      Wir sitzen still nebeneinander auf der Terrasse und hören dem Schreien der Seevögel zu. Den Tee koche ich nach Großvaters chinesischen Lehren. Stets wähle ich die Sorte, die zum jeweiligen Tag passt: weißen, grünen oder schwarzen oder einen Kräutertee, der eine bestimmte Körperfunktion anregt. Aber wenn wir wegen starken Windes oder wegen unruhiger Vorfahren schlecht geschlafen haben, trinken wir starken Kaffee aus dem Kessel.

      Zerstreut streichle ich die Narbe an meinem Kopf.

      »Ich habe inzwischen Halluzinationen«, sage ich, nachdem ich die erste Tasse Tee getrunken habe. »Auf dem Meer habe ich mitten im Nebel ein Boot gesehen, das gar nicht da war. Ich dachte, es sei echt, und habe fast einen Panikanfall bekommen. Joel ist wohl auch erschrocken, auch wenn er den Vorfall später nicht erwähnt hat. Manchmal nehme ich sogar noch mehr wahr, Stimmen, Gestalten am Ufer, Gesichter im Wasser, alle möglichen seltsamen Sachen. An einem Abend war ich auf dem Weg in die Sauna und habe durchs Fenster eine Frau auf der Pritsche sitzen sehen. Zuerst bin ich natürlich erschrocken, aber da war niemand. Ich weiß nicht, woher die Halluzinationen kommen, aber ich kann mit Joel nicht darüber reden und weiß nicht, mit wem ich es sonst tun könnte. Wenn ich dem Arzt etwas davon sage, bekomme ich noch mehr Medikamente und kapiere danach überhaupt nichts mehr.«

      Großvater antwortet, indem er in seine Teetasse lächelt. Mit Joel spricht er nie über seinen Buddhismus, seine Engeltherapie oder über Großmutters Anwesenheit im Zimmer. Joel steht auf der Seite der Wissenschaft, nicht auf der des Hokuspokus.

      »Ich mache mir langsam Sorgen und frage mich, was diese Halluzinationen zu bedeuten haben. Werde ich verrückt, oder sterbe ich? Wenn man anfängt, Tote zu sehen, heißt das dann nicht, dass man selbst stirbt?«

      »Nein, das heißt es nicht«, antwortet Großvater in seiner ruhigen Art. »Der Mensch sieht alles Mögliche, wenn er es braucht. Ich habe nie Geister gesehen, aber ihre Anwesenheit sehr wohl gespürt.«

      Ich weiß, dass er Großmutter meint, deren Nähe er oft wahrnimmt, vor allem auf der Insel. Allerdings hat Großmutter erklärt, sie werde ihm nach ihrem Tod überallhin folgen, sodass es ihm vielleicht gar nicht möglich wäre, ihre Anwesenheit nicht zu spüren, selbst wenn er es wollte.

      »An diesem Ort gibt es ein besonderes Magnetfeld, das habe ich immer gespürt, schon als Kind«, fährt Großvater fort. »Konzentriere dich nicht darauf, deine Gedanken oder Halluzinationen abzuwehren, lass sie kommen und gehen, höre, was sie dir zu sagen haben. Hab keine Angst. Schau dir Fanni an: Ihr ist es egal, ob ihre Fantasiegefährten real sind. Sie weiß, dass sie nicht real sein müssen, fühlt sich aber mit ihnen wohl, weil sie sie zum Spielen braucht oder um die Wirklichkeit zu verstehen, um etwas Neues zu lernen. Für Kinder ist das einfach, Erwachsene machen es sich schwer. Manchmal fällt es leichter, mit den Toten als mit den Lebenden zu sprechen.«

      Großvater hat recht, wie immer, auch wenn Joel das nicht glaubt. Ich beschließe, die Fantasiegefährten zuzulassen und mich über den Sommer zu freuen, über meine Familie, über diesen Sommer, den wir noch haben.

      FANNI

      Wie ist es, wenn man alt wird, will Fanni bei Sonnenuntergang auf dem Felsen von Großvater wissen.

      Es ist so, dass man den Horizont nicht mehr sieht. Die schönsten Ausflüge sind gemacht, die größten Abenteuer liegen hinter einem, an geliebte Menschen kann man nur noch zurückdenken. Manchmal kommt es einem so vor, als hätte man nichts Schönes mehr zu erwarten, sagt Großvater.

      Fanni sitzt eine Weile schweigend da.

      Dann muss man aufs Meer schauen, sagt sie und nimmt Großvaters Hand.

      So ist es, stimmt er zu und nimmt das vor Leben ganz warme Mädchen in den Arm.

      EMMA

      Ich lernte Joel in einer Bar kennen, so wie damals alle Männer. Manchmal ging ich auch zu einem Online-Date, aber das war jedes Mal fürchterlich. Im Netz roch man einen Mann nicht, und ich konnte seine Gebärden nicht sehen, ob sie zu mir passten, zu der Vorstellung, die ich von einem Mann hatte. Daher war das erste Treffen von Angesicht zu Angesicht ausnahmslos immer eine unangenehme Überraschung.

      Joel stand in einer Ecke der Bar und schien sich für nichts zu interessieren, nicht einmal für seine lauten und schönen Freunde. Seine mürrische Miene machte mich schon deswegen neugierig, weil ich mich fragte, warum er nicht einfach nach Hause ging, wenn er keine Lust zu feiern hatte.

      Ich selbst hatte mein chaotisches Leben satt, in dem die Männer kamen und gingen – vor allem gingen. Joel war nicht nach meinem Geschmack. Zu gewöhnlich, kein Abenteuertyp.

      Ich ließ meine Freundinnen stehen, die diverse Männer auf Trab hielten, und stellte mich kurz neben ihn. Keine Reaktion. Ich fragte mich, ob er schwul oder vergeben war, aber eigentlich war es mir egal. Darum tat ich das, was ich bei Männern sonst nie tat: Ich ergriff die Initiative.

      »Vielleicht solltest du nach Hause gehen«, sagte ich, und Joel sah mich verdutzt an.

      »Entschuldige, was hast du gesagt?«

      »Weil dir genauso langweilig zu sein scheint wie mir. Ich habe mich nur gefragt, ob du nicht lieber nach Hause gehen und mich bei der Gelegenheit zum nächsten Taxistand begleiten solltest. Von wo aus ich dann zu mir nach Hause fahre.«

      Joel starrte mich eine Weile an, und ich dachte, dass er eine überraschend männliche Stimme hatte und deshalb interessanter war, wenn er redete, als wenn er stumm dastand.

      »Warum nicht«, sagte er, nachdem er nachgedacht hatte. »Ich sollte einem Freund Gesellschaft leisten, aber wie es aussieht, lässt der sich da drüben von deinen Freundinnen ausnehmen. Er braucht mich bestimmt nicht mehr, eine von denen wird ihn schon abschleppen. Lass uns gehen.«

      Und so gingen wir, ohne jemandem etwas zu sagen. Joel brachte mich zum nächsten Taxistand. Ich quatschte auf dem ganzen Weg irgendwelches betrunkenes Zeug, auf das er nicht viel erwiderte. Sein Schweigen und seine Gleichgültigkeit waren das Interessanteste seit Langem.

      Er wartete höflich, bis ich ein Taxi hatte.

      »Ich komme nicht mit, von One-Night-Geschichten halte ich nichts«, sagte er dann.

      »Es muss ja keine One-Night-Geschichte sein.«

      »Willst du mir deine Nummer geben?«

      »Nicht wirklich, aber ich gebe sie dir trotzdem. Du hast bestimmt keine Lust, anzurufen, und das musst du auch nicht, aber lass uns das jetzt bis zum Schluss durchziehen«, sagte ich und zog mein Handy heraus. »Wie lautet deine Nummer? Ich schicke dir eine SMS.«

      Im Taxi schrieb ich ihm: »Du bist der absolut uninteressanteste Mann seit Langem. Ruf mal an.«

      Eine Woche später meldete er sich.

      EMMA

      Zuerst war es ein Witz. Ich dachte, ein Date mit einem uninteressanten Mann würde mir guttun. Meine Freundinnen gaben


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