Den du nicht siehst - Ein Schweden-Krimi. Mari Jungstedt

Den du nicht siehst - Ein Schweden-Krimi - Mari  Jungstedt


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Kindliche Helden und Tiere sprechen das Publikum immer an.

      Aus dem Augenwinkel registrierte er, dass der Nachrichtensprecher die Redaktion betrat. Es war Zeit, die Themen durchzugehen und für die übliche Diskussion der Frage, welcher Studiogast für diesen Abend eingeladen werden sollte.

      Eine Diskussion, die sich, je nach Stimmungslage, zu einem heftigen Disput oder zu einem wunderbaren, anregenden Gespräch entwickeln konnte.

      Den Hund entdeckte er zuerst. Erik Andersson, dreiundsechzigjähriger Frührentner aus Ekstra, der seine Schwester in Fröjel besuchte. Zusammen machten die beiden bei Wind und Wetter lange Spaziergänge am Strand, selbst an einem trüben Tag wie diesem.

      Doch heute hatte seine Schwester abgelehnt. Sie war erkältet und wollte lieber im Haus bleiben.

      Erik aber zog es raus. Nach dem gemeinsam verzehrten Mittagessen, Fischsuppe und Preiselbeerbrot, das er selbst gebacken hatte, stieg er in seine Gummistiefel, nahm seinen Anorak und ging hinaus.

      Über den Feldern und Wiesen, die auf beiden Seiten des schmalen Kieswegs lagen, war die Sicht ziemlich klar. Der Morgennebel hatte sich gelichtet. Die Luft war kalt und feucht. Erik Andersson rückte seine Mütze gerade und beschloss, zum Wasser hinunterzugehen. Der Kies knirschte vertraut unter seinen Schuhen. Die schwarzwolligen Schafe schauten von der Weide auf, als er vorüberkam. Auf dem halb verrotteten alten Tor unten beim letzten Waldstück vor dem Strand saßen drei Krähen nebeneinander. Mit beleidigtem Krächzen flogen sie auf, als er näher kam.

      Er wollte gerade den verrosteten Riegel wieder einlegen, da fiel sein Blick auf etwas Seltsames am Wegrand. Es sah aus wie ein Teil von einem Tier. Er trat näher und beugte sich vor. Es war eine Pfote, und sie war blutverschmiert.

      Sein Blick folgte der Blutspur. Ein Stück entfernt lag ein großer, schwarzer Hund mit weit offenen Augen auf der Seite. Sein Kopf war in einem seltsamen Winkel verdreht und das Fell blutdurchtränkt. Als Erik Andersson näher kam, sah er, dass der Hund enthauptet worden war, der Kopf war fast gänzlich vom Rumpf getrennt worden.

      Ihm wurde schlecht, und er musste sich auf einen Stein setzen. Das Atmen fiel ihm schwer, er hielt sich die Hand vor den Mund. Sein Herz hämmerte. Es war unbehaglich still. Nach einer Weile stand er mühsam auf und schaute sich um. Was mochte hier vor sich gegangen sein? Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Und dann entdeckte er sie. Die Tote war mit Tannengrün und Zweigen notdürftig verdeckt. Sie war nackt.

      Bei der Polizei von Visby ging um 13 Uhr 02 der Notruf ein. Fünfunddreißig Minuten später fuhren auf Svea Johanssons Hofplatz in Fröjel zwei Streifenwagen mit heulenden Sirenen vor. Es dauerte noch weitere fünf Minuten, bis der Krankenwagen eintraf und die Sanitäter sich um Erik Andersson kümmern konnten, der zusammengesunken auf einem Stuhl in der Küche saß und sich hin und her wiegte. Seine Schwester wies auf den Teil des Waldes, in dem ihr Bruder die Entdeckung gemacht hatte.

      Kommissar Anders Knutas und seine Kollegin Karin Jacobsson liefen zu Fuß zu dem Waldstück, gefolgt vom Techniker der Spurensicherung, Erik Sohlman, und zwei weiteren Polizisten mit Hunden.

      Am Ende des Weges, unmittelbar vor dem Strand, lag der tote Hund in einer Senke. Der Boden in seiner Nähe war blutgetränkt. Sohlman beugte sich über das Tier.

      »Erschlagen«, stellte er fest. »Die Wunden scheinen von einem scharfen Gegenstand zu stammen. Vermutlich von einer Axt.«

      Karin Jacobsson erschauderte. Sie liebte Tiere.

      Nicht weit von dem Hund entfernt fanden sie die misshandelte Frauenleiche. Sie musterten sie schweigend.

      Nackt lag sie da, unter einem Baum. Der Körper war voller Blut, nur stellenweise schimmerte die Haut weiß hindurch. Tiefe Wunden überzogen Hals, Brust, Bauch. Die Augen weit aufgerissen, erstaunt. Ihre Lippen waren trocken und gesprungen. Knutas spürte Übelkeit aufsteigen. Er beugte sich vor, um die Tote genauer anzusehen.

      Der Mörder hatte ihr ein gestreiftes Stoffstück in den Mund gestopft. Es sah aus wie eine Unterhose.

      Wortlos zog Knutas sein Mobiltelefon aus der Jackentasche und rief die gerichtsmedizinische Abteilung in Solna an. So bald wie möglich musste ein Pathologe eingeflogen werden.

      Das erste Nachrichtentelegramm lief um 16 Uhr 07 ein. Noch ließen die Informationen zu wünschen übrig.

      Visby (TT)

      An einem Strand an der gotländischen Westküste wurde eine tote Frau aufgefunden. Laut Polizeiberichten wurde sie ermordet. Wie die Frau ums Leben gekommen ist, teilte die Polizei noch nicht mit. Die Straßen in der Umgebung sind abgesperrt worden. Derzeit wird ein Mann von der Polizei vernommen.

      Erst zwei Minuten später entdeckte Max Grenfors das Telegramm auf seinem Bildschirm.

      Sofort rief er bei der Polizei von Gotland an.

      Er erfuhr jedoch nicht viel mehr. Die Polizei bestätigte, dass eine Frau ermordet an einem Strand bei Gustavs in der Gemeinde Fröjel an der gotländischen Westküste aufgefunden worden war. Die Frau war bereits identifiziert, sie hatte in Stockholm gelebt. Ihr Lebensgefährte wurde soeben von der Polizei vernommen. Eine Hundestreife durchsuchte die Umgebung des Fundorts. Die Polizei befragte die Nachbarschaft und hoffte auf mögliche Zeugen.

      In dem Moment klingelte der Apparat auf Johan Bergs Schreibtisch. Er war einer der dienstältesten Reporter der Redaktion. Vor zehn Jahren hatte er beim Fernsehen angefangen. Durch Zufall war er zu Beginn seiner Karriere bei der Kriminalberichterstattung gelandet. An seinem ersten Arbeitstag wurde in Hammarby eine Prostituierte brutal ermordet. Johan war der einzige Reporter, der gerade in der Redaktion herumsaß. Er bekam den Auftrag, und sein Bericht war der Aufmacher der Sendung. Er hatte als Kriminalreporter weitergemacht. Noch immer hielt er dieses Ressort für das spannendste innerhalb des Journalismus.

      Gerade war er allerdings in seinen Bericht über den Streik in Österåker vertieft und feilte am Text herum. Der Beitrag sollte bald geschnitten werden, und alles musste fertig sein, ehe er beginnen konnte, Bilder, Sprechertext und O-Töne zusammenzusetzen. Zerstreut griff er zum Hörer.

      »Johan Berg, Regionalnachrichten.«

      »Auf Gotland ist eine Tote gefunden worden, erschlagen«, zischte eine Stimme in sein Ohr. »Da hat ein richtiger Irrer zugeschlagen.« Der Anrufer informierte Johan über die vermutliche Tatwaffe und das Detail mit der Unterhose.

      Er war einer von Johans besten Informanten. Ein pensionierter Polizist, der in Nynäshamn wohnte. Nach einer Kehlkopfoperation atmete er durch ein Röhrchen, das aus seinem Hals herausragte.

      »Was sagst du da, zum Teufel?«

      »Sie wurde an einem Strand in Fröjel gefunden, an der Westküste.«

      »Wie sicher ist das?«, fragte Johan und spürte, wie sein Puls sich beschleunigte.

      »Absolut sicher.«

      »Was weißt du sonst noch?«

      »Sie stammt von Gotland, ist aber schon vor langer Zeit aufs Festland gezogen. Nach Stockholm. Sie wollte mit ihrem Lebensgefährten ein paar Tage auf der Insel verbringen. Er wird gerade vernommen.«

      »Wie wurde sie gefunden?«

      »Von irgendeinem Typen, der gerade vorbeikam. Einem alten Kerl, den sie ins Krankenhaus gebracht haben. Er steht sicher unter Schock. Das kannst du ja alles überprüfen.«

      »Vielen Dank. Ich bin dir wirklich ein paar Bier schuldig«, sagte Johan, beendete das Gespräch und sprang auf.

      In der Redaktion brach fieberhafte Aktivität aus. Johan erzählte Grenfors, was er erfahren hatte, und der beschloss sofort, Johan und einen Kameramann mit der nächsten Maschine nach Gotland zu schicken. Den Bericht über den Streik in Österåker musste jemand anders zusammenbauen. Jetzt galt es, sich um den neuen Fall zu kümmern und schneller als alle anderen zu sein.

      Eigentlich hätte Max Grenfors den Chef vom Dienst in der Zentrale, der den Überblick über alle Nachrichtenredaktionen des Senders hatte, informieren müssen, aber das konnte warten. Einen kleinen Vorsprung kann


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