Devolution. Ralph Denzel
und den Teil davon, den wir schon auf Erden haben können!«
Und nun standen sie hier in der Sakristei und Tom schien es, als würde sich ein schwarzes Loch in seinem Inneren auftun. Er spürte, wie Tränen in seinen Augen aufstiegen, als er den Pfarrer, seinen Mentor, ein letztes Mal ansah.
»Machen Sie es gut.« Er reichte ihm die Hand, die Pfarrer Wutknecht überraschend fest umklammerte. Seine Stimme wirkte brüchig, als er wieder sprach. Tom wusste nicht, ob es von Rührung oder vom Krebs kam.
»Sie auch, Tom. Sie auch. Wir sehen uns bald wieder.« Es klang nach einem Versprechen für Tom, welches nun auch ihm etwas Hoffnung geben würde. So standen sie eine Weile da, bevor Wutknecht Toms Hand losließ.
Wir sehen uns bald wieder.
Ich hoffe es, Pfarrer Wutknecht, ich hoffe es. Ich hoffe, ich habe meine Schuld bezahlt.
»So, und jetzt gehen Sie! Sie sind noch verabredet und ich will nicht, dass Sie diese Verabredung wegen einem altem, sentimentalem Pfarrer, der langsam an Krebs stirbt, verpassen!« Er machte mit seinen Händen scheuchende Bewegungen, als wollte er Tom zur Eile antreiben. »Gehen Sie, Tom! Gehen Sie!«
Dieser lächelte, stockte gleichzeitig einen Moment. Vielleicht war jetzt die einzige Gelegenheit, seine Beichte abzulegen. Nein, nicht jetzt. Dies würde er mit dem Herren persönlich ausmachen. Tom hatte zu viel Achtung vor Pfarrer Wutknecht und wollte, dass die Achtung, die der alte Mann für ihn empfand, ebenso bestehen blieb.
Er drehte sich um und ging. Die Tür fiel leise hinter ihm ins Schloss.
Die Sonne schien noch sehr hell, als er auf die Straße trat, und die Hitze staute sich in den hohen Häuserschluchten. Es mussten gerade mindestens 36°C herrschen. Tom hatte kaum zwei Schritte gemacht, als er schon spürte, wie sich die ersten Schweißtropfen auf seiner Stirn bildeten und in kleinen Rinnsalen über seine Haut rannen.
Kein einziges Auto fuhr vorbei.
So etwas sah man hier in den letzten Wochen so gut wie gar nicht mehr. Wer eines besessen hatte, hatte damit nur zwei Richtungen gekannt: weg von hier, oder hierher, und zwar zum Seestadion. Tom hatte Geschichten gehört, die fast schon an Legenden grenzten. Ein Ort des Todes, hatte ihm eine Frau gesagt. Der Vorhof zur Hölle ein anderer. Er wusste, dass Chris dort gearbeitet hatte und hätte ihn auch gerne gefragt, was er dort gemacht hatte, hatte aber von Noah erfahren, mit dem Chris geredet hatte, er solle besser nicht darüber sprechen. Auch wenn es ihm unter den Fingern brannte, er entschloss sich, nichts zu sagen, bevor nicht Chris damit anfangen würde. Dies sah er als eine Art Freundschaftsdienst, bei dem auch manche Dinge unausgesprochen bleiben mussten.
Auch Pfarrer Wutknecht war mehrmals dort gewesen. Eines Tages, Tom hatte gerade die Sakramente gespendet, war der Pfarrer wieder zurückgekommen. Es war nicht möglich, dass wusste Tom, aber er hatte damals das Gefühl gehabt, dass der Pfarrer an diesem Tag noch kränker geworden war, oder zumindest um einige Jahre älter. Er hatte zerbrochen gewirkt, wie eine Statue, die man mit einem Hammer bearbeitet hatte. Seine Glieder waren steif und schwankend zugleich gewesen, er hatte sich immer wieder am kühlen Holz der Kirchenbänke festhalten müssen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Auf die Frage, was mit ihm los sei, hatte er nur erwidert, es sie die Hitze, die ihm zu schaffen machte.
Aber Tom hatte es ihm nicht geglaubt, und als er von Gemeindemitgliedern gehört hatte, was dort passieren sollte, wurde sein Verdacht zur bitteren Wahrheit.
Er würde Chris fragen müssen – viel Zeit hatte er dafür nicht mehr.
Ein kurzer Blick auf die Kirchturmuhr über ihm zeigte an, dass er noch etwas Zeit hatte. Nun stand er vor einer für einen Menschen fast unlösbaren Aufgabe. Wie sollte man Zeit totschlagen, wenn man keine mehr hatte? Die Welt würde in wenigen Stunden untergehen, und er musste sich überlegen, was er tun sollte, bevor er seine Freunde traf, um auf das Ende zu warten.
Er lachte kurz über die Ironie und schüttelte den Kopf. Nach einer Weile hatte er sich entschlossen, die Zeit mit einem kleinen Spaziergang totzuschlagen. Er könnte ja einen Umweg hin zum Zähringerplatz laufen, dort, wo er sich mit Chris verabredet hatte.
Mick würde nachkommen, das hatte er ihnen schon angekündigt – wobei das implizierte, dass man verstanden hätte, was er gesagt hatte. Vielmehr waren es unartikulierte Laute gewesen, die irgendwie nach »ommm siiiiiiiiiiiibn« geklungen hatten, als sie mit ihm gesprochen hatten. Es war wohl so ziemlich die letzte Gelegenheit gewesen, als die Telefone noch funktioniert hatten, bevor es immer wieder zu Stromausfällen gekommen war und damit verbunden zu Netzschwankungen. Konstanz hatte überraschenderweise Glück gehabt und war davon weitestgehend verschont geblieben.
Ja, er würde am Zähringerplatz warten, wie er es früher auch immer gemacht hatte, als er noch sechzehn gewesen war. Damals hatten er und seine Freunde immer versucht, gleichaltrigen Mädchen mit Alkohol zu imponieren und, so viel Ehrlichkeit konnte er sich heute eingestehen, sie betrunken zu machen.
Da er am ältesten ausgesehen hatte, war er meistens derjenige gewesen, der vorgeschickt worden war und sich in einem Supermarkt im Kellergeschoss eines großen Einkaufszentrums in die Schlange einreihte und gehofft hatte, dass die Verkäuferin nicht so genau hinschauten oder heute ihre Brille vergessen hatten. Dummerweise war dies jedoch eher die Ausnahme gewesen und so war er meistens nur mit Bier und anderen weniger stark alkoholischen Getränken aus dem Laden gekommen, die er in seinem jugendlichen Alter hatte kaufen dürfen.
Er musste grinsen, als er sich daran erinnerte, wie Noah sich einmal mit einer Verkäuferin angelegt hatte, als diese ihnen wieder den Wodka verwehrt hatte.
Kurz vor ihnen war ein Alkoholikerpärchen an der Reihe. Die beiden hatten so unglaublich penetrant nach Alkohol gestunken, dass Mick damals, es war eine der wenigen Gelegenheiten gewesen, wo alle vier Freunde sich in die Katakomben des Einkaufszentrums gewagt hatten, gesagt hatte: »Wenn die uns nichts verkaufen, dann schlecken wir einfach die beiden da ab! Das macht genauso besoffen, wetten wir?«
Die Frau hatte laut gelacht und dabei ihre gelben Zähne entblößt. Ihre fettigen Haare hatten gebebt, während sie das typische, krächzende Alkoholikerlachen angestimmt hatte. Keiner von den Freunden wusste, ob sie den Witz verstanden hatte oder einfach lachte, weil sie Aufmerksamkeit wollte.
Die Frau legte die sieben Flaschen Bier, die drei Flaschen Wodka und die zwei Flaschen Feigling in den Einkaufswagen und bezahlte die Verkäuferin in Pfennigstücken. Seufzend hatte die Kassiererin dies mit einem Blick über sich ergehen lassen, der darum bettelte, dass die Dame möglichst schnell wieder verschwinden würde. Damals gab es noch die D-Mark, aber sie war nicht mehr als ein Auslaufmodell, und die meisten Preise waren sowohl in Euro als auch in Mark ausgegeben.
Die Alkoholikerin kreischte wieder vor Lachen über einen Witz, den nur sie hörte und schob wankend ihren Einkaufwagen weg. Ihr Begleiter, dem ein speckiger Dreitagebart im Gesicht stand, folgte ihr schlurfend und desorientiert. Er stolperte, als er auf eine Rolltreppe steigen wollte und landete polternd auf dem Hintern. Mühsam richtete er sich wieder, klammerte sich an die Haltegriffe ließ sich von der Treppe nach oben befördern. Seine Hose war ihm über seinen Allerwertesten gerutscht und entblößte seine verdreckte, zerschlissene Unterhose, die wohl irgendwann mal weiß gewesen war, jetzt jedoch einen ungesunden Grauton angenommen hatte.
Dann kamen die vier Freunde an die Reihe. Keiner von ihnen kannte die Verkäuferin, daher hofften sie, es wäre eine Neue, die nicht so streng vorging, wie es in diesem Laden meistens üblich war – aber sie hatten sich geschnitten. Wie eine Oberlehrerin blickte sie über ihre Kasse die vier Jungs an und dann auf ihre potenziellen Einkäufe. Zwei Flaschen Wodka und ein Kasten Bier, dazu mehrere Schachteln Zigaretten.
»Ausweise?«, fragte sie trocken.
»Schülerausweis?«, fragte Noah grinsend. Eine ihrer neusten Erfindungen. Da in ihren Schülerausweisen das Alter von Hand reingeschrieben worden war, hatten sie folgenden Plan verfolgt: Sie hatten im Sekretariat ihrer Schule behauptet, sie hätten ihre Ausweise verloren und einen neuen beantragt. In einer großen Schule mit fast tausend Schülern hatten die Sekretärinnen meistens Besseres zu tun, als sich die Namen und die Gesichter von jedem zu merken. Sie warfen einen kurzen Blick