Europa 2020. Winfried Böttcher

Europa 2020 - Winfried Böttcher


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weiß ich, dass die Vorwürfe kommen werden, ich machte unrealistische Vorschläge. Ich weiß aber auch, dass vor jeder praktischen Umsetzung eine Idee steht und dass „keine Idee eine gute ist, die nicht am Anfang als völlig illusorisch erschien“ (Albert Einstein, 1879–1955).

      Ich gehe also davon aus, dass der Nationalstaat seine historische Funktion erfüllt hat, zum Beispiel seinerzeit mit der Abschaffung des Feudalismus. Weiter gehe ich davon aus, dass mit den Nationalstaaten Europa nicht zu bauen ist, wie siebzig Jahre Integrationsversuche gezeigt haben.

      Von daher schlage ich in einer Skizze in Kapitel 5.4 einen Systemwechsel vor, Europa ohne Nationalstaaten in einer Regionalisierten Republik neu zu gründen.

      Der zentrale Begriff im ersten Teil des Buches heißt: Krise.

      An sieben ausgewählten Krisenszenarien für das unruhige Jahrzehnt 2010 bis 2020 verdeutlichen wir unterschiedliche Veränderungsprozesse, die durch ganz unterschiedliche Krisen hervorgerufen wurden, auf ganz unterschiedlichen Feldern, und die ganz unterschiedlich noch andauern.

      Alle ausgewählte Krisen – die Flüchtlingskrise, der Ukrainekonflikt, der Brexit, das Virus des Nationalismus, die Umwelt- und Klimakrise, die Coronakrise – zeigen in ihrer Breite und Tiefe individuelle, familiäre, gruppenspezifische, gesellschaftliche, regional-, national-, europa- und globalsystemische Facetten. So wird das Phänomen Krise an sieben Beispielen aus vielen Ecken beleuchtet.

      (Im Weiteren zum Krisenbegriff übernehme ich das Kapitel aus meinem Buch Klassiker des europäischen Denkens 2014, teilweise überarbeitet und ergänzt.)

      Das Wort „Krise“ bedeutet in seinem griechischen Ursprung (krinein = prüfen, sich entscheiden) Unterscheidung oder Entscheidung, wie es Thukydides (460–395), der Vater der Geschichtsschreibung, in der „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ verstanden hat (vgl. Starn 1973, 52f.).

      „Es ist wahr, der Persische Krieg übertrifft an Bedeutung alle Taten früherer Zeiten. Indessen war derselbe bald zu Ende, und alles wurde durch zwei Schlachten zu See und auf dem Lande entschieden“ (Thukydides 1925, I, 23, s. auch: III, 31–83).

      Für Randolph Starn ist die „wichtigste und interessanteste Auslegung des Begriffs“ bei dem griechischen Arzt Hippokrates (460–377), einem Zeitgenossen von Thukydides, zu finden, wenn er über die Krise bei Krankheiten nachdenkt: „Die Krise tritt in Krankheiten immer dann auf, wenn die Krankheiten an Intensität zunehmen oder abklingen oder in eine andere Krankheit übergehen oder überhaupt ein Ende haben“ (Hippokrates: De affectionibus, zit. bei: Starn 1973, 53).

      Aus dem Krisenbegriff bei Hippokrates können wir mehrere verallgemeinernde Schlüsse ziehen. Danach ist jede Krise ein offener Prozess. Der Ausgang ist nicht vorhersehbar, also nicht zwangsläufig. Je nach Verlauf der Krise entscheidet sich, ob sie eine Wendung zum Besseren oder zum Schlechteren nimmt. Jede Krise hält also Alternativen bereit, beinhaltet auch Chancen. Krisen sind beeinflussbar, beherrschbar, wenn das Krisenmanagement eine Vorstellung davon hat, welche Veränderungen durch die Krise erreicht werden sollen.

      „In jedem Fall geht es hier um eine in sich unhaltbare Situation, die sich durch extreme Ambivalenz ihrer Entwicklungsmöglichkeiten auszeichnet und in der ,etwas geschehen muß‘. Genauer gesagt ist diese Situation eine objektive Gegebenheit, die bestimmte Subjekte unter Entscheidungs- und Aktionszwang setzt, weil sie eine Bedrohung von Zielen darstellt, die für diese Akteure unaufgebbar sind. Ein weiteres Merkmal des entscheidungstheoretisch konzipierten Krisenbegriffs ist der Zeitdruck. ,Krise ist ein Entscheidungsprozeß unter Zeitdruck‘ (Karl Deutsch)“ (Jänicke 1973, 33, vgl. auch: Vierhaus, in: Jordan 2002, 193–197).

      Das ungewisse Nichtwissen erschwert die Lösung einer Krise, für die es eben d i e Lösung nicht gibt. Da Krisen immer ein offener Prozess sind, mit einer Art Janusgesicht, dem römischen Gott des Anfangs und des Endes, gibt es immer mehrere Möglichkeiten, Krisen zu bewältigen. Krisen offenbaren einen Zustand, der auf Veränderungen zielt. Individuelle Krisen sind niemals rückwärtsgewandt, sondern deuten in ihrem Prozess auf Zukünftiges hin. Selbst wenn eine Revolution durch eine Konterrevolution niedergeschlagen wird, ist der gesellschaftliche Zustand danach ein anderer.

      Krisenbewältigung ist auch deshalb besonders kompliziert, weil es meist keine monokausale Erklärung für den Ausbruch einer Krise zu einer bestimmten Zeit gibt.

      An drei Beispielen wollen wir noch den Krisenbegriff in gebotener Kürze illustrieren: Karl Marx (1818–1883), Jacob Burckhardt (1818–1897), Paul Valéry (1871–1945) (vgl. Böttcher, 2014, 387ff., 377ff., 480ff.).

      Bei Marx waren Krise und Überproduktion zwei Seiten derselben Medaille. Für ihn entstanden Krisen durch eine massive Gleichgewichtsstörung von Produktion und Konsumption. Er ging von der These aus, dass im Kapitalismus ein Gleichgewicht nicht möglich sei, von daher in kapitalistischen Gesellschaften eine Krise die nächste ablöse. Erst die Aufhebung (im Hegelschen Sinne) der kapitalistischen Gesellschaft im Kommunismus könne wieder ein stabiles Gleichgewicht herstellen.

      „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut der Konsumptionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktionskräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumptionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde“ (MEW 1970, Bd. 25, 501, vgl. auch MEW 1971, Bd. 24, 318, Anmerkung, MEW 1972, Bd. 4, 466ff., Starn 1973, 55f., auch: Böttcher,2014, 387ff.).

      „Überproduktionskrisen“ sind zunächst ökonomische Krisen, die jedoch mit zunehmender Verschärfung alle Gesellschaftsbereiche befallen.

      Während Marx sein Krisenszenario als Auseinandersetzung zwischen Klassen entfaltet, untersucht Jacob Burckhardt in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ Krisen als Ursache für eine notwendige Weiterentwicklung der Gesellschaft. Ohne Krisen gibt es keinen gesellschaftlichen Wandel. Krisen, in denen „die politische und soziale Grundlage nie erschüttert wird“ (WB 1941, 260), können nicht als echte Krisen angesehen werden. Als „wahre Krise“ sieht er die Völkerwanderung, eine „Verschmelzung einer neuen materiellen Kraft mit einer alten, welche aber in einer geistigen Metamorphose, aus einem Staat zu einer Kirche geworden, weiterlebt“ (ibid., 261).

      Grundsätzlich sind Krisen etwas Positives. Mit „Leidenschaft“ werden „ungeahnte Kräfte“ freigesetzt, „die etwas Neues und nicht nur das Umstürzen des Alten“ wollen (ibid., 288).

      Selbst den Krieg als Urkatastrophenkrise sieht Burckhardt, anknüpfend an Heraklit (535–475), nicht nur negativ. Es sind wohl im Wesentlichen vier Gedanken Heraklits, an die Burckhardt anknüpft: „Alles Geschehen erfolge infolge eines Gegensatzes. […]. Das Widerstrebende vereinige sich und aus den entgegengesetzten (Tönen) entstehe die schönste Harmonie, und alles Geschehen erfolge auf dem Wege des Streites. […] Kampf ist der Vater von allem, der König von allem; […] Man muss wissen, daß der Kampf das Gemeinsame ist und das Recht der Streit und daß alles Geschehen vermittels des Streites und der Notwendigkeit erfolgt“ (Herakleitos in: Capelle 1963, 133ff.).

      Allerdings „müsste es womöglich ein gerechter und ehrenvoller Krieg sein, etwa ein Verteidigungskrieg, […]“ (WB 1941, 255).

      Da sich die „geistigen Entwicklungen“ nicht kontinuierlich, vielmehr „sprung- und stoßweise“ äußern, ist eine Krise „ein neuer Entwicklungsknoten, der aufgelöst werden muss. Dies gilt sowohl für die Entwicklung des Individuums“ als auch für die gesamte Gesellschaft.

      „Die Krisen räumen auf: zunächst mit einer Menge von Lebensformen, aus welchen das Leben längst entwichen war, und welche sonst mit ihrem historischen Recht nicht aus der Welt wären wegzubringen gewesen. […] Die Krisen beseitigen auch die ganz unverhältnismäßig angewachsene Scheu vor ,Störung‘ und bringen frische und mächtige Individuen empor“ (ibid., 289, vgl. auch: Böttcher, 2014, 377ff.).

      Ganz unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges, der dem „kleine(n) alte(n) Kontinent“ nichts als „Elend, Zerstörung und Tod“ gebracht hat, der die europäische Kultur im „Innersten getroffen“ hat, in dem die gesamte Zivilisation „ihren eigenen Ruin“ erzeugt hat, unter diesem Eindruck erläutert


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