Heathens Ink: Meine Herzensbrecher. K.M. Neuhold
Ich ziehe mir in meiner dunklen Wohnung die Schuhe aus, ohne mir die Mühe zu machen, das Licht einzuschalten. Die Stille ist abschreckender, als sie sein dürfte. Ich habe fünf Jahre allein gelebt – die wenigen Monate, die mein Freund Finn hier gewohnt hat, nicht mitgezählt – also sollte mich die Stille nicht mehr stören.
Ein Schauer rinnt über meinen Rücken, als ungebetene Erinnerungen drohen, an die Oberfläche zu steigen. Scheiße, ich wünschte, ich würde immer noch Tabletten einwerfen. Dieser Mist ließ sich einfacher begraben, wenn ich high war.
Entschlossen, meinen Gedanken zu entkommen, gehe ich ins Schlafzimmer und tausche meine Arbeitsklamotten gegen eine Basketballhose und ein frisches T-Shirt, ehe ich nach draußen gehe. Alles ist besser, als in dieser verstörenden Stille zu bleiben, alles ist besser, als die Erinnerungen zuzulassen, alles ist besser, als in die dunkelsten Winkel meines Kopfs vorzudringen.
Meine Füße finden einen Rhythmus und mein Puls schlägt gleichmäßig in meinen Ohren. Ich laufe, bis mir das schweißnasse T-Shirt am Rücken klebt und meine Lungen brennen. Erst, als ich kurz davor bin, auf der Stelle zusammenzubrechen, drehe ich um und laufe zu meiner Wohnung zurück.
Dieses Mal höre ich die Stille nicht, als ich eintrete, weil mein Herz zu laut schlägt und meine Atmung zu rau ist. Ich gehe direkt ins Badezimmer, ziehe meine verschwitzten Klamotten aus und lasse sie auf einen Haufen auf dem Boden liegen. Ich vermeide einen Blick in den Spiegel; wenn meine Dämonen so nah unter der Oberfläche sind, kann ich mein Spiegelbild nicht ertragen. Ich kann mir nicht in die Augen sehen und wissen, dass ich sie so enttäuscht habe. Ich kann nicht in den Spiegel sehen und riskieren, einen Blick auf meinen Vater zu erhaschen oder den verängstigten kleinen Jungen zu sehen, der noch immer hinter meinen Augen lauert.
Mein Magen verkrampft sich, als meine Gedanken diesem dunklen Ort gefährlich nahe kommen. Ich balle die Fäuste, und meine Muskeln zucken, um etwas zu tun, das diese Gedanken vertreibt. In den Wänden gibt es genug reparierte Löcher aus den Nächten, in denen ich nicht anders konnte. Ein weiteres macht mich nicht noch weiter zum Versager.
Mein Handy klingelt auf dem Boden zwischen meinen Klamotten. Die Ablenkung vertreibt den Nebel aus Wut und Selbsthass. Es ist eine Nachricht von Madden, einem der anderen Tattookünstler im Studio. Er hat mir ein Foto von seinen und Thanes Mädchen geschickt, den dreijährigen Zwillingen Bella und Brooklyn. Sie sehen hinreißend aus, von Kopf bis Fuß mit Farbe beschmiert. Unter dem Foto steht: angehende Künstlerinnen.
Dank der Nachricht löst sich ein Teil der Enge in meiner Brust. Ich betrachte das Bild noch ein paar Sekunden, ehe ich mein Handy weglege und mich in der Dusche unter den lauwarmen Wasserstrahl stelle.
Jahrelang war ich sicher, dass mein Seelenverwandter ganz in der Nähe war – jemand, der mit seinem Licht die Dunkelheit vertreiben konnte, jemand, der meine Seele beruhigen und mich von meinen Sünden befreien konnte. Ich hatte Zeit zu erkennen, dass das zu viel ist, um es einer Person aufzubürden. Falls mein Seelenverwandter irgendwo da draußen ist, hoffe ich für ihn, dass er niemals das Pech hat, mir über den Weg zu laufen.
Gott, ich bin heute Abend in einer schrecklich düsteren Stimmung. Normalerweise treibt es mich in dieser Stimmung in eine Bar, wo ich nach einem Mann oder einer Frau suche, um mich für ein paar Stunden abzulenken, mich im Hier und Jetzt zu verankern, anstatt mich von meinen Gedanken in die Vergangenheit ziehen zu lassen. Aus irgendeinem Grund hat diese Art der Bewältigung im letzten Jahr ihren Reiz verloren.
Hier bin ich also – kein Seelenverwandter, kein Aufriss, nur ich und meine Dämonen.
Als ich aus der Dusche komme, schreibe ich meinem Kumpel Finn eine Nachricht. Er ist einer der wenigen Menschen, die meine ganze Geschichte kennen. Wir haben uns im Gefängnis kennengelernt und wenn man etwas Derartiges zusammen erlebt hat, gibt es kaum etwas, das man nicht teilt.
Owen: Ich muss auf was einschlagen, kommst du ins Fitnessstudio?
Finn: Ich hoffe, du meinst einen Sandsack; ich bin von unserem letzten Training immer noch wund lol
Owen: Alles andere als meine Wand ist in Ordnung.
Finn: Bin gleich da, Kumpel.
Liam
Ich streiche mit den Fingern durch das weiche Fell meines Schäferhunds Fritz, der neben mir auf der Couch liegt. Ich lege den Kopf schräg und lächle darüber, wie das Foto auf meinem Bildschirm geworden ist. Vor ein paar Monaten hatte ich die Idee zu dieser leicht gewagten Serie und habe seitdem hart daran gearbeitet sie zusammenzustellen. Leider ist es schwieriger, als man glauben könnte, einen Haufen tätowierter Männer zu finden, die sich größtenteils nackt fotografieren lassen.
Die Hälfte der tätowierten Männer, die ich kenne, sind meine Brüder, also scheiden die zweifellos aus. Durch Freunde habe ich ein paar Models gefunden und wieder andere durch eine Anzeige auf dem schwarzen Brett am College. Aber das Model, das ich wirklich will, ist Owen. Und nicht nur, weil ich ihn nackt in meinem Bett haben will. Okay, das ist vielleicht zu vierzig Prozent der Grund. Hauptsächlich liegt es aber daran, dass seine Tattoos Perfektion sind. Genau ihn hatte ich im Sinn, als ich das erste Mal an diese Serie gedacht habe. Ich muss einfach nur den Mut aufbringen, ihn zu fragen.
»Oh mein Gott, du wirst nicht glauben, wie mein Tag war«, sagt Kyle, als er unsere Wohnung betritt und sich die Schuhe auszieht. Fritz klopft zur Begrüßung träge mit dem Schwanz auf die Couch.
»Hey, Kumpel.« Kyle streichelt Fritz über den Kopf und drückt ihm einen Kuss auf die Schnauze.
»Erzähl.« Ich klopfe auf die freie Stelle neben mir.
»Oooh, sexy Foto. Wer ist der heiße Typ?«, fragt er und mustert das Foto auf meinem Bildschirm.
»Er heißt Tony. Du kennst Becks Freund Clay?«, frage ich und Kyle nickt. »Das ist der Bruder von Clays Mann Max. Er hat diese schöne, olivfarbene Haut der Italiener, die seine Tattoos auf den Fotos unglaublich aussehen lässt.«
»Hast du zufällig seine Nummer behalten, nachdem du ihn bezahlt und weggeschickt hast?«, fragt er, den Blick noch immer auf den Bildschirm gerichtet.
»Ich hab seine Nummer, aber er ist durch und durch hetero. Vertrau mir, bei dem bist du an der falschen Adresse.«
»Schade.« Kyle seufzt und reißt seinen Blick schließlich von dem Foto los.
»Du wolltest von deinem Tag erzählen?«
»Oh ja. Ich denke darüber nach zu kündigen. Ich halte es mit meinem homophoben Boss nicht mehr aus. Es ist ihm egal, dass mein Marketingplan seinen Umsatz verdoppelt hat; er ist zu beschäftigt damit, sich auf die Tatsache einzuschießen, dass ich gern Make-up trage.«
»Dann kündige. Scheiß auf ihn, wenn er so ist. Genau wegen diesem Mist bin ich selbstständig. Nicht, dass ich noch oft für das falsche Geschlecht gehalten werde, aber ich gehe lieber auf Nummer sicher.«
»Verständlich.« Kyle tätschelt mein Bein und seufzt dann. »Ich mache mich am Wochenende wohl besser auf Jobsuche.«
»Warum arbeitest du in der Zwischenzeit nicht ein bisschen als freiberuflicher Marketingberater? Du könntest einigen kleineren Betrieben deine Dienste anbieten, um ihre Geschäfte anzukurbeln. Dein Marketing hat mir viele Aufträge verschafft; ich empfehle dich liebend gern weiter.«
Kyles Augen leuchten auf. »Das ist vielleicht keine schlechte Idee. Ich denk darüber nach.«
»Falls du so was wie Bilder für eine Website brauchst, sag Bescheid.«
»Mach ich.« Er drückt mir schnell einen Kuss auf die Wange und dank seines Lipgloss' ist meine Haut nun ein wenig klebrig. Dann steht er auf und geht in sein Schlafzimmer.
Ich schüttle den Kopf und klappe den Laptop zu. Man sollte meinen, dass die Leute mittlerweile ihre bigotte Engstirnigkeit hinter sich gelassen hätten. Vielleicht eines Tages.
Ich habe mehr Zeit mit der Bildbearbeitung verbracht als geplant. Jetzt muss ich einen Zahn zulegen, um mich fertig zu machen, bevor meine