Lones große Reise. Poul Nørgaard

Lones große Reise - Poul Nørgaard


Скачать книгу
Nil hinauffahren, die Pyramiden sehen und auf dem Kamelrücken einen Abstecher zu den Oasen der Libyschen Wüste machen wollte. Aber wenn sie diese Herrlichkeiten auch nicht zu sehen bekamen, so hatten sie doch auch etwas, worauf sie sich freuen konnten. Der Kapitän teilte nämlich mit, das Schiff würde zwei Tage in Alexandria liegenbleiben, und da bot sich Fräulein Simonsen an, die beiden Mädchen auf einen Rundgang durch die Stadt mitzunehmen.

      Kaum war der Dampfer festgemacht und das Ehepaar mit den besten Ferienwünschen von Kapitän und Passagieren von Bord gegangen, als sie eine merkwürdige Gestalt gewahrten, die sich dem Kai näherte.

      Es war ein großer, breitschultriger und magerer Mann um die Fünfzig mit Sonnenbrille und Vollbart. Er trug weiße Tropenkleider, und obwohl die Sonne von einem wolkenlosen Himmel herabbrannte, hatte er einen Regenschirm unter dem Arm. Einige Schritte hinter ihm folgte ein orientalischer Träger mit rotem Fes, der ein paar gewaltige Koffer schleppte.

      „Was meinst du, was das für ein komischer Kauz ist?“ flüsterte Lone.

      „Phileas Fogg in eigener Person“, kicherte Kirsten, und als der Fremde in diesem Augenblick die Laufplanke betrat, fügte sie hinzu: „Sieh bloß, ich glaube wahrhaftig, er kommt hier ’rauf.“

      Der Fremde sah sich auf Deck einen Moment suchend um und trippelte dann mit kleinen nervösen Schritten auf die Mädchen zu, die an der Reling stehengeblieben waren. Gemessen lüftete er den Tropenhut ein paar Millimeter:

      „Mein Name ist Joke, Professor der Ägyptologie. Würden Sie so freundlich sein, mir zu sagen, wo ich den Kapitän finde?“

      Lone hatte im Hinblick auf die bevorstehende Australienreise ihre Schulkenntnisse im Englischen während des letzten Jahres fleißig erweitert. Doch in diesem Augenblick, als sie ihr Wissen zum ersten Male praktisch anwenden sollte, verschlug es ihr die Sprache. Sie verstand die Frage des Professors sehr gut, aber es war ihr nicht möglich, auch nur ein einziges englisches Wort hervorzubringen. Glücklicherweise tauchte Fräulein Simonsen gerade auf. Sie übersah sofort die Lage und fragte bereitwillig, ob sie irgendwie behilflich sein könne. Der Professor wiederholte seine Frage, worauf sie ihn zur Kajüte des Kapitäns begleitete.

      „Ein außerordentlich interessanter Mann“, sagte sie, als sie kurz darauf zurückkam. „Hoffentlich gelingt es mir, ihn dazu zu bewegen, uns die Stadt ein wenig zu zeigen. Unter anderem gibt es hier ja ein Museum mit ägyptischen Altertümern, über das er uns eine Menge erzählen könnte.“

      „Was wollte er hier an Bord?“ fragte Kirsten neugierig.

      „Ja, denkt nur, er fährt bis nach Australien mit, wo er an der Universität Sydney eine Reihe von Vorträgen halten soll. Er hatte ein Telegramm von der Reederei, daß man ihm die Kajüte des Großhändlers überlassen solle. Ich hatte eigentlich gehofft, dahin umziehen zu können.“

      „Mit größtem Vergnügen“, antwortete der Professor, als Fräulein Simonsen sich kurz darauf ein Herz faßte und fragte, ob er ihr und den beiden Mädchen Alexandria zeigen wolle. „Sie dürfen nur nicht zuviel von mir erwarten. Meine Ortskenntnis ist leider recht mangelhaft. Ich habe mich nämlich nur ganz kurz in der Stadt selbst aufgehalten.“

      4

      „Ja, wo sollen wir bloß anfangen?“ sagte der Professor, als sie am Nachmittag von Bord gingen und sich in die Stadt begaben. „Ich kenne ein ausgezeichnetes Restaurant, wo man unter anderem echtes dänisches Bier kriegen kann.“

      Fräulein Simonsen machte vor Entsetzen einen Luftsprung. „Bier? Ich trinke niemals Bier, und die Mädchen wahrscheinlich auch nicht.“

      „Ach so, ja. – Ich dachte nur … Sie sind doch aus Dänemark, und da glaubte ich, Sie hätten vielleicht Lust … Bei der Hitze, nicht wahr?“

      „Es würde uns sehr interessieren, wenn Sie uns etwas über die Stadt erzählen würden.“

      „Ja, natürlich. – Sehen Sie, von Alexandria kann man sagen, daß es eine Stadt von nicht unwesentlicher Bedeutung ist. Unter anderem besitzt sie einen vorzüglichen Hafen, aus dem jährlich ungeheure Mengen Baumwolle verschifft werden. Außerdem …“

      „Ich dachte eigentlich mehr an die Geschichte der Stadt“, warf Fräulein Simonsen ein.

      „Ach so. – Ja, nun, um mit dem Anfang zu beginnen, so stammt Alexandria aus alter Zeit. Wahrscheinlich sogar sehr alter Zeit. Angeblich …“

      „Angeblich?“ Fräulein Simonsen rückte an ihrem Kneifer und betrachtete ihn sichtlich erstaunt.

      „Ja“, fuhr der Professor fort. „Die vorliegenden Angaben sind ja leider recht mangelhaft, aber man meint, die Stadt sei damals, vor unzähligen Jahren, in der grauen Vorzeit, wie man so sagt, ursprünglich Hauptstadt der Phönizier gewesen.“

      „Der Phönizier?“ – Fräulein Simonsen wurde sichtlich mehr und mehr verwirrt. „Der Ptolemäer, meinen Sie wohl?“

      „Wieso Ptolemäer?“ Der Professor sann nach. „Ja, Sie haben ganz recht, es waren übrigens wohl auch die Ptolemäer. Genau wie heute war Alexandria auch damals stark befestigt und führte ausgedehnte Kriege mit den Römern unter Alexander dem Großen, die sogenannten Punischen Kriege.“

      Mit einer beinahe ängstlichen Bewegung zog sich Fräulein Simonsen einen Schritt zurück. „Ich verstehe nicht recht. Alexander der Große war ja König von Mazedonien und lebte lange vor den Punischen Kriegen, die außerdem Karthago galten und nicht Alexandria.“

      Der Professor legte tiefsinnig den Zeigefinger an die Stirn. „Hm. Soweit ich mich entsinne, war Alexandria auch in diese Sache verwickelt, ob Sie sich da nicht vielleicht irren?“

      „Ich habe zwanzig Jahre lang Unterricht in Geschichte erteilt!“

      „Ach, hm. – Und Sie halten es für ausgeschlossen, daß die dänischen Geschichtsschreiber … ich meine, bei der Übersetzung dieser alten Schriften …“

      „Das halte ich allerdings für sehr unwahrscheinlich“, schnitt Fräulein Simonsen ihm spitz das Wort ab. „Aber vielleicht wollen der Herr Professor uns lieber das Museum mit den ägyptischen Altertümern zeigen. Darauf habe ich mich so gefreut.“

      „Das Museum? Gibt es hier auch ein Mu … – Ach so, ja, natürlich. Ha, ha! Einem Professor wird ja nachgesagt – und vielleicht nicht ganz ohne Grund –, er sei ein wenig zerstreut, nicht wahr? Wenn ich einen Vorschlag machen darf, dann stärken wir uns jetzt erst ein bißchen, sofern ich mir erlauben darf, Sie einzuladen. Na, was meint ihr dazu?“ Er wandte sich an die Mädchen.

      „O ja, gern, vielen Dank“, antwortete Lone, die ihre sprachlichen Hemmungen allmählich überwunden hatte. Auch hatte der Professor sie durch die anerkennende Bemerkung ermuntert, es erstaune ihn, ein Mädchen in ihrem Alter so gut Englisch sprechen zu hören. „Ich habe Durst gekriegt, und Kirsten wäre über etwas Trinkbares wohl auch nicht böse.“

      Während sie durch die Straßen gingen, unterhielt er sich denn auch hauptsächlich mit Lone, worüber sie gar nicht besonders begeistert war, denn es gab soviel zu sehen. Die einzelnen Stadtviertel waren sehr verschiedenartig, und in den Straßen herrschte buntes Leben. Zu Fuß und mit allen möglichen Verkehrsmitteln, vom modernen Luxusauto angefangen bis zum Kamel und Eselskarren, bewegten sich elegante Europäer, Griechen, Italiener, Armenier, Araber und Neger zwischen der eigentlichen Bevölkerung der Stadt. Aber alles das schien den Professor nicht weiter zu interessieren. Unermüdlich fragte er Lone nach den Verhältnissen in Dänemark aus, fragte, wohin sie und ihre Freundin reisten, wen sie besuchen wollten und alles mögliche andere.

      Unter dem Sonnenschirm eines kleinen Restaurants an der Straße, wo man Kuchen, kalte, durstlöschende Getränke und arabischen Kaffee bekommen konnte, nahmen sie eine Erfrischung zu sich.

      Fräulein Simonsen mischte sich nicht in das Gespräch. Sie saß etwas zurückgezogen da und beobachtete heimlich den Professor mit forschenden Blicken.

      Als sie sich erhoben, um weiterzugehen, benutzte sie die Gelegenheit und zog Lone zur Seite. „Seid nur


Скачать книгу