Seewölfe - Piraten der Weltmeere 703. Sean Beaufort
beförderte der Profos einen Haufen verfilzten Haars außenbords. Die Strähnen schienen zu leben, und am liebsten hätte er es verbrannt. Aber dann hätte der Gestank selbst die halbtoten Inder umgeworfen.
Hasard und Philip schleppten zum drittenmal zwei Körbe mit Essen heran.
Sie blieben zwischen den Sträflingen stehen, und Hasard rief: „Noch jemand Hunger? Es ist genug da! Packt zu, ihr tapferen Ruderer aus Madras!“
Sie verstanden sein Hindi und rissen den Zwillingen das harte Brot, die wenigen frischen Früchte und den Reisbrei mit Fischstücken darin aus den Körben. Den Reis stopften sie sich mit den schmutzigen Fingern zwischen die Lippen.
„Soll ich sie vielleicht auch noch rasieren?“ fragte Dan O’Flynn, der wieder die vollen Pützen aus der Kombüse schleppte.
„Können sie bei Tageslicht selbst“, entschied Hasard. „Wir müssen zusehen, daß wir die Galeere flottkriegen.“
Es dauerte länger als eine Stunde, bis die fünfundzwanzig Rudersklaven wieder menschenähnlich aussahen. Die weißen und mit farbigen Streifen verzierten Tücher, mit denen sie sich mehr recht als schlecht abtrockneten, blieben einigermaßen sauber. Als sich die ausgemergelten Männer die frischen Dhotis um die knochigen Hüften geknotet hatten, erkannte niemand die Rudersklaven mehr. Nur die Bärte störten noch, zumal Seifenreste und Reiskörner in den struppigen Haaren hingen.
Der Erste stemmte die Fäuste in die Seiten, schaute sich im Kreis der schuftenden Seewölfe und der Rudersklaven um und deutete schließlich auf die Decksplanken.
„Unsere ehemaligen Freunde, mit denen wir Riemen an Riemen, Kette an Kette saßen“, sagte er im Befehlston, „sollen sich in die leeren Kojen der Shastri-Crew verholen. Urlaub bis zum Morgengrauen. Sag ihnen das, Hasard junior.“
„Aye, aye, Sir“, entgegnete der Zwilling und versuchte, mit wilden Armbewegungen die dösenden Inder wieder aufzumuntern.
„Noch nicht zusammenbrechen, Freunde“, dolmetschte er. „Wir bringen euch zu den Kojen. Ihr wißt zwar nicht mehr, was das ist, aber wenn ihr’s seht, habt ihr es sofort begriffen. Los, unter Deck, ihr Schlafwandler!“
Er packte zwei der Ruderer, die mit gesenkten Köpfen und hängenden Schultern inmitten des Schaums, des Wassers und der Reste ihrer langen Haarpracht herumstanden, an den Oberarmen und zog sie mit sich. Zwei andere trotteten halbblind hinter ihm her und enterten unter Deck ab.
„Die haben’s immerhin besser als der falsche Sultan und Capitán de Xira“, murmelte der Profos und leerte den Rest des eigentümlich riechenden Waschwassers über das Schanzkleid ins dunkle Wasser.
Der Portugiese und der Inder befanden sich gut bewacht in der Vorpiek der Schebecke. Dort konnten sie sich über ihre fehlgeschlagenen Pläne tagelang und nächtelang unterhalten und vielleicht wieder einen Fluchtversuch planen.
Während an Bord der „Stern von Indien“ der Waschplatz und einige andere Bereiche ohne großen Eifer aufgeklart wurden, pullten die Seewölfe eins der Beiboote von der Schebecke herüber.
Der zweite Anker und zwei aufgeschossene Trossen lagen auf den Duchten. Die vier Mann näherten sich nur langsam.
„Das wird ein schweres Stück Arbeit, Sir“, sagte der Erste. „Ich frage mich, ob wir einen Teil der Ballaststeine leichtern sollen.“
„Ja, Ben“, murmelte der Seewolf. „Steinballast ist in Madras am leichtesten zu beschaffen. Außerdem ist das wohl nicht mehr unser Problem.“
„Eben deshalb.“
Es gab nur eine einzige Möglichkeit, die Galeere vom Schiet wegzukriegen: auf die Flut warten, auf den höchsten Wasserstand, und dann mit Gangspill und Warpanker ziehen und zerren.
„Ob ein Anker uns reicht?“ fragte Ben und beobachtete die Manöver.
Vor kurzer Zeit war der Umfang der langgezogenen Riffinsel ausgelotet worden. Die Schebecke lag in sicherer Entfernung mit dem Bug nach Nordosten vor Anker. Bis jetzt griff der Anker im Grund und hielt das Schiff sicher, ohne daß es seine Position veränderte.
„Das werden wir feststellen, Ben, wenn wir’s versuchen“, erwiderte Hasard bedächtig. „Durchaus denkbar für mich, daß wir noch ein paar Männer von drüben brauchen.“
Die „Stern von Indien“ hatte südlichen Kurs gesteuert, als sie auf die große Untiefe geraten war. Ihr Bug wies, grob gesehen, nach Madras. Eben verschwanden die letzten Inder über die Niedergänge, und die Seewölfe versammelten sich auf der Back der Galeere. Die erste Trosse war an Bord genommen worden, und drei Mann suchten unter Deck nach den Spaken für das Gangspill.
„Taljen her!“ hörte Ben den Schiffszimmermann rufen. „Zum Bug!“
An Deck war genügend Helligkeit. Die Crew konnte arbeiten, und jeder sah genug. Das Licht der Buglaterne und zusätzlicher Funzeln reichte nur einige Yards weit. Aber den Seewölfen im Beiboot genügte es, die Umrisse des Bugs der „Stern“ zu sehen. Sie pullten etwa eine halbe Kabellänge weit über dem unreinen Grund und wuchteten mit beträchtlicher Mühe den Anker über das Dollbord.
Das andere Ende der Trosse war am Heck des Beibootes belegt. Ob der Anker saß, würde man erst später sehen. Es gab jetzt keine Möglichkeit, die Art des Bodens festzustellen. In der Dunkelheit glaubten die Seewölfe am südlichen Ende des langgezogenen Unterwasserriffs eine kleine Insel mit wenigen Gewächsen zu erkennen, die sich nur ein paar Fuß über die Wellen erhob. Sie pullten zurück zur Galeere.
„Trossenstek in die Enden!“ rief der Erste hinunter.
„Verstanden!“
Hasard schirmte die Augen ab und musterte die Umgebung. Nicht ein Licht außer den Laternen der Schebecke. Aber auch keine Blitze und kein Wetterleuchten aus dem nördlichen Sektor, obwohl der Wind wieder in Böen kam und in der Takelage winselte und heulte. Die Schaumkronen der Wellen waren deutlich größer geworden. Wieder wandte sich der Seewolf an seinen Ersten.
„Ich hoffe noch immer, daß die Flut und höherer Wellengang die Galeere genügend weit aufschwimmen lassen“, sagte er. „Oder uns wenigstens beim Warpen helfen.“
„Kann sein, kann auch nicht sein, Sir“, entgegnete Ben nachdenklich. „Ich würde keine Wette riskieren.“
„Auf jeden Fall wird es für uns alle eine lange, harte Arbeit“, sagte der Seewolf.
Nils Larsen rief aus dem Beiboot, das an Steuerbord gegangen war: „Wir haben im Ankerauge eine Leine eingeschäkelt, Sir.“
„Recht so. Und ein Faß als Boje?“ fragte der Seewolf laut und winkte in die Jolle hinunter.
„Ein Fäßchen. Ohne viel Lose.“
Ungefähr die Hälfte der Seewölfe-Crew hatte auf die „Stern“ übergewechselt. Diese Galeere war ihnen nicht mehr fremd. Sie kannten inzwischen jeden Laderaum zwischen Spiegel und Vorsteven. Die „Stern“ war nicht gerade üppig ausgerüstet, aber sie hatte zwei ansehnlich große und schwere Anker.
„Wir werden, wenn es nötig ist, auch die Anker der Galeere brauchen“, sagte Dan O’Flynn und schleppte einen Arm voller frischer, nach Öl und Erdpech stinkender Fackeln auf die Back. „Sollen sie drüben auch noch das andere Beiboot wassern, Sir?“
„Noch nicht“, sagte Hasard halb unentschlossen.
Der Wind hatte noch mehr aufgefrischt. In unregelmäßigen Abständen rauschte von Norden her eine unsichtbare große Welle heran, brach sich auf der Untiefe, schlug hoch, zischte gurgelnd an den Längsseiten der Galeere vorbei und schmetterte krachend und dröhnend gegen Gillung und Achterdeck. Das Schiff erzitterte, knirschte und knarrte in allen Verbänden. Sogar die Masten zitterten.
Carberry stapfte heran und kniff die Augen gegen den Wind zusammen. Von den Flammen riß die nächste Bö winzige Funken und dünnen Rauch weg und wirbelte sie wieder zurück in die Dunkelheit. Ein dünner salziger Regen strich über die Länge des Decks.
„Sir,