Pirmasens. Rainer Wieczorek

Pirmasens - Rainer Wieczorek


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der Knute des Elternhauses und der sich ankündigenden Vereinnahmung durch das Militär eine neu entstandene Lücke zu nutzen, eine Lücke, die man Jugend nennt – zur Selbstvergewisserung, zum Protest. – ›Jugendstil‹, ›Jugendbewegung‹, ›Arbeiterjugend‹ – wenn du über diese Zeit schreibst, kannst du das Wort ›Jugend‹ bald nicht mehr ertragen.«

      »Weil mit der Industrialisierung auf einmal die Werte und Verhaltensnormen der Alten keine Orientierung mehr boten«, sagte Danski. »Im Jazz wurde das Verdrängen traditioneller Spielweisen durch Newcomer zum Dauerzustand! Als dies nicht mehr gelang, weil das musikalische Material von nahezu allem Befreibaren befreit war, verloren die Jazzmusiker ihren Kompass. Der Jazz lebte von der Umwälzung.«

      Als Wajaroff nichts sagte, fuhr Danski fort:

      »In Deutschland galt der Jazz – das wird dich interessieren – bis in die Siebzigerjahre hinein als Jugendmusik. Als künstlerische Ausdrucksform wurde er vom Establishment nicht ernst genommen. Ein Jazz-Musiker, der in kommunalem Auftrag spielte, erhielt seine Gage vom Jugendamt, nicht etwa vom Kulturamt.«

      »Und die Jugendlichen in Pirmasens?«, fragte Wajaroff nach einer Pause.

      »Die kamen nicht zu Jazzkonzerten. Die wurden in den Schuhfabriken gebraucht. Nach der achten, spätestens nach der neunten Klasse bot man ihnen ein nagelneues Mofa an, mit dem man am Wochenende bis Kaiserslautern fahren konnte – um Pirmasens zu entkommen –, und dann wurden sie ohne jede Berufsausbildung Arbeiter in einer Schuhfabrik. Es erfordert viel Geschick, Schuhe zu formen – das lernte man hier, ohne später davon profitieren zu können.«

      »Pirmasens entkommen«, sagte Wajaroff leise.

      Hinten hämmerte Amrein.

      MIT EINEM SCHLAGSCHNURGERÄT spannt sie dünnes Baumwollgarn voll schwarzen Kreidepulvers von den Nägeln rechts des Bildes zu den Nägeln links des Bildes. Mit geübter Hand zieht sie feine Schlaufen um die Nägel: Die Schnur spannt sich.

      »Als die gesamte Schuhproduktion innerhalb weniger Jahre von Pirmasens zunächst nach Spanien, Portugal, Ungarn und Kroatien, später nach Taiwan, Vietnam und Indien verlegt wird, klassifiziert man das Personal als ungelernte Arbeiter, nahezu chancenlos auf einem kleiner werdenden Arbeitsmarkt.«

      »Sie hämmert nicht mehr, hörst du das?«

      »Man kann nur hören, was zu hören ist.«

      »Bitte nicht zu trivial, lieber Danski. Oder kennt man im Jazz die Pause nicht? Den ungespielten Ton?«

      Im ersten Stock der gegenüberliegenden Fabrik waren die Gewichtheber des rheinland-pfälzischen Landesverbandes untergekommen. Im Erdgeschoss befand sich eine osteopathische Praxis mit angeschlossenem Fitnessstudio für die ältere Generation. Das obere Geschoss stand leer.

      Wajaroff und Danski betrachten eine längere Zeit schweigend die Gewichtheber in den Fenstern des gegenüberliegenden Fabrikgebäudes.

      »Die Lust scheint der Steigerung des persönlichen Leistungsvermögens zu gelten, ins Ungeheure hinein!«

      »Und zugleich ins immer Aussichtslosere: Wer wollte die neue Bestleistung noch überbieten? Am Höhepunkt angelangt, muss der Gewichtheber vor der eigenen Leistung kapitulieren.«

      Die Blicke der beiden sanken allmählich ins Erdgeschoss des gegenüberliegenden Gebäudes, in welchem sich angehende Senioren gegen das Alter wappneten, indem sie auf einer Bodenmatte Bauchwippen absolvierten, Eisengewichte mittels eines Ankers nach oben zogen, an speziellen Geräten sitzend mit ausgewählten Spreiz- und Streckbewegungen Schulter-, Bauch- und Rückenmuskulatur trainierten, um schließlich verschwitzt, aber zufrieden, mit Jogginghose und Handtuch in der Umkleidekabine zu verschwinden.

      Bald saß eine andere Gruppe an den Geräten, und wieder begannen sich die Gewichte zu bewegen.

      SIE ZIEHT EINE ATEMSCHUTZMASKE ÜBER MUND UND NASE und lässt die Farbpigmente der Schnur auf den Bildträger schnappen. Eine schwarze Linie zeichnet sich ab, die dort staubt, wo der Faden aufprallt.

      »Wie eine Gitarrensaite«, wird Wajaroff sagen, wenn sie wieder am Fenster stehen, und Danski wird ihn fragen, wie er auf das Thema seiner Arbeit gekommen sei. Er selbst sei Pfadfinder gewesen, wird Wajaroff antworten, Jungpfadfinder, um genau zu sein. Bis zum Hilfskornett der Sippe Bison habe er es gebracht. Einen Ledergürtel mit Pfadfinder-Schnalle, ein Fahrtenmesser mit Metallscheide, ein blaues Jungpfadfinder-Abzeichen und die schwarze Schlaufe des Hilfskornetts habe er getragen. Und das braune Hemd, vor dem die Kiosk-Besitzerin, Frau Pallmann, so erschrak, als er seine Kluft das erste Mal spazieren trug. Eigentlich sei es eher sandfarben gewesen, wüstenfarben, aber das konnte den Schreck nicht lindern. Dass man 1968 – und um dieses Jahr handelte es sich – Zwölfjährige, als sei nichts geschehen, in ein Braunhemd steckte, sei bezeichnend für die Entwicklung Deutschlands in den ersten Nachkriegsjahrzehnten gewesen, so Wajaroff. Und nach einer Pause: »Ich jedenfalls fand mich schick und erinnere mich noch bestens, wie ich mit jener Wandergitarre, die mir meine Eltern bei Kaplan Eberhard gekauft hatten, durch die Dunkelheit der Wintermonate zur Gruppenstunde ging: Die Zeit der Abgrenzung war gekommen. Christian Nestmann, mein Gruppenführer, ein sogenannter Rover (rotes Abzeichen), führte ein Ringbuch, in dem er selbstabgetippte Beatles-Texte aufbewahrte, mit allen Gitarren-Akkorden! Meiner Wandergitarre also und der grauen Schreibmaschine meines Vaters, einer Torpedo, gehörte die Zukunft. Zwischen der alten und der neuen Welt versuchte ich mich einzurichten. Die alte Welt war das Wohnzimmer meiner Eltern, in denen ich nun im Zweifinger-System die Worte tippte: Nothing you can do, that can’t be done – eine Sprache, die meine Eltern nicht verstanden. Die neue Welt, das war das Lagerfeuer der Pfingstfreizeit, als ich zum ersten Mal den Klang einer zwölfsaitigen Gitarre hörte, der mich verzauberte. Und wenn wir dann mit Kaplan Eberhard zusammen beim Abschiedslied sangen wir ruhen all in Gottes Hand, dann wussten wir uns auch außerhalb des Elternhauses geborgen, in Gottes freier Natur.«

      »Die goldenen Zeiten von Pirmasens«, sagte Danski.

      »Dass sich die Zeiten ändern, merkten auch die Pfadfinder. Bei der Nachtwanderung 1969 bekam ich mit den Worten Picon aus Paris eine Flasche gereicht. Kein Zweifel: Das war verboten – und ich griff zu. In den Ringbüchern der Gitarristen gab es neben den Liedern der Beatles jetzt auch jene Franz-Josef Degenhardts, die grifftechnisch schwieriger waren. Mit vierzehn dann mein erstes Degenhardt-Konzert, dreitausend Leute!«

      »Davon eineinhalbtausend in Salamander-Schuhen!«

      »Hochkonjunktur. 1969 hatte die Schuhproduktion in Pirmasens ihren Höchststand erreicht. Jetzt konnten die Arbeiter zum ersten Mal wirklich etwas für sich herausschlagen!«

      »Den Farbfernseher.«

      Wajaroff sah sich um. »Ich glaube, wir müssen runter. Hinten wird schon das Licht gelöscht.«

      EIN NEUER FADEN KNALLT AUF DIE BILDFLÄCHE: EINE PARALLELE?

      Die Hügelstraße hinauf schnauben jetzt zwei Läufer. Danski und Wajaroff stehen am Fenster und schweigen.

      »Gab’s das früher auch, diese Fitnessstudios?«, fragt Wajaroff, als die Läufer nicht mehr zu sehen sind: »Ich glaube, in Pirmasens gibt es mittlerweile mehr Geschäfte, in denen man Sportschuhe kaufen kann, als Bierkneipen.«

      Danski schweigt weiter.

      »Auf der einen Seite agieren Triathleten, die monströse Rekorde aufstellen, auf der anderen Seite herrscht völlige Apathie. Viele Familien leben bereits in der dritten Generation von staatlicher Fürsorge, Familien, von denen nichts mehr zu erwarten ist; die sich vor dem Bildschirm eingerichtet haben und nur mehr glotzen. Kinder wachsen auf, denen weder Interesse noch Empathie entgegengebracht wird, übergewichtig und unterernährt zugleich. – Schwer vorzustellen, dass Pirmasens noch vor wenigen Jahrzehnten eine der wohlhabendsten Städte Deutschlands war, zumindest statistisch.«

      Weil Danski weiter schweigt, fährt Wajaroff fort: »So endet also diese Phase der Industrialisierung, ließe sich sagen. Das Ergebnis dessen, was einst in Berlin begann, bei Osram, Siemens & Co., ist nun hier zu besichtigen!« Wajaroff weist auf die gegenüberliegende Fabrik: »Wo keine Waren


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