Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens. Helmut Schwier
Religion und Kirche kann heute eher durch zu inszenierende Rezitationen und Lesungen nahegebracht werden. Dabei hat solcher Bibelgebrauch vor allem die Aufgabe, christliche Religion in seiner Raumgestalt zu eröffnen und erfahrbar werden zu lassen.36
»Dem lauten Lesen als elementarer Gestalt von Auslegung setzen sich Zuhörende mit ihren Sinnen aus. Sie öffnen sich dem Klang und werden von seinen Schwingungen getragen. Schwebende Aufmerksamkeit auf sich selbst, auf das Körpergefühl, begleitet den Vorgang. Körperliches Wohlbehagen und Störungen beim Zuhören haben hermeneutische Signifikanz für das Gehörte. Niemand hat in der Hand, was sich tut, während er sich von einem Wortlaut tragen lässt. Innere Bilder entstehen, Klänge, Farben […] Zum Verfahren des Hörens gehört der Austausch über das Hören. Jeder hat anderes wahrgenommen, und im Wahrgenommenen teilt er sich selbst mit.«37
Dieser didaktische Gebrauch betont die Raum öffnende Kraft der sinnlich präsenten Worte und setzt aus sich heraus die Weiterarbeit in Form der Reflexion frei. Solche an den liturgischen Gebrauch angelehnte Verwendung markiert ebenso wie das Erzählen und gruppenweise Rezitationen38 den performativen Charakter biblischer Geschichten und Texte und ist vor allem als Initialphase eines Unterrichtsgeschehens denkbar. Dabei sollten die genannten differenzierten Funktionen gottesdienstlicher Lesungen Beachtung finden und didaktisch reflektiert werden.
Geht es im Religionsunterricht immer wieder um die pädagogisch verantwortete gemeinsame39 Entdeckung christlicher Religion, so versteht sich ein ästhetisch arbeitender Unterricht, z. B. mit verfremdeten und zunächst kaum entschlüsselbaren biblischen Motiven, als Anleitung zur offenen Spurensuche des Heiligen.40 Für sie ist die Verbundenheit mit der biblischen story, ihren Grundmotiven und Axiomen unverzichtbar.
4. Bibelgebrauch in der Theologie
Der wissenschaftliche Bibelgebrauch vollzieht sich in der Theologie und hat für Lehre und Forschung schwerpunktmäßig seinen Ort an den Universitäten und Hochschulen. Galt zumindest für die evangelische Theologie deutscher Prägung in den 1950er und 1960er Jahren die Exegese als Leitdisziplin der Theologie und die historisch-kritische Methode sogar als Verkörperung der Rechtfertigungslehre,41 so ist in der gegenwärtigen Lage weder eine Leitdisziplin noch eine allgemein akzeptierte theologische Enzyklopädie42 in Sicht. Das betrifft auch den wissenschaftlichen Bibelgebrauch, der sich in höchstem Maße differenziert.
Die Differenzierung und Spezialisierung ist innerhalb der Exegese offensichtlich. Die klassische historisch-kritische Methode, die in sich bereits eine zusammenhängende Pluralität von Fragestellungen aufweist, wird nach wie vor in Proseminaren vermittelt. In der Forschung wurde sie um sozialgeschichtliche Analysen und linguistische Methoden erweitert, die weitgehend akzeptiert wurden.43 In der neutestamentlichen Exegese sind gegenwärtig interessante Neuansätze zu beobachten: Sie beziehen sich z. B. auf differenzierte Untersuchungen zur Kultur der Antike,44 auf die Erklärungspotentiale der modernen Konstruktivismusdebatten45 und auf die explizite Verbindung historischer Analysen und moderner Theorien.46 Die Bibel wird hier als Quellenbuch gebraucht, das zur (Re-)Konstruktion antiker Vorstellungen im Gesamtrahmen damaliger Kultur dient. Dies führt zur Betonung des Abstands zwischen biblischen Texten und gegenwärtiger Weltsicht und bietet gleichzeitig die Möglichkeit, den religiösen Gehalt des frühen Christentums Glaubenden wie Nicht-Glaubenden verständlich zu machen.47
Während es innerhalb der Systematischen Theologie Ansätze gibt, die Exegese zu einer neuen Biblischen Theologie weiter zu führen, in der Differenzen und multirelationale Argumentationsmuster innerhalb des biblischen Kanons zu systematischer Orientierung und Klärung dienen,48 scheint in der Praktischen Theologie der wissenschaftlich-kritische Bibelgebrauch abgesehen von homiletisch-hermeneutischen Reflexionen49 erst noch bevorzustehen.50 Praktischtheologische Aufgabe wird es sein, den wissenschaftlichen und den praktischen Bibelgebrauch wechselseitig aufeinander zu beziehen, also im Sinne des Anfangszitats als ›Thürhüter‹ zu fungieren, der die verschiedenen Riegel entfernt. Das bedeutet: Praktische Theologie hat die vielfältigen Zugänge zur Bibel so zu reflektieren und weiter zu entwickeln, dass sie von Einzelnen, Gruppen und Kirchen privat und öffentlich wahrgenommen und praktiziert werden können.
Liturgie und Bibel *
Sehr geehrter Herr Rektor, liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, verehrte Damen und Herrn!
Das Thema »Liturgie und Bibel« – so werden manche von Ihnen denken und eventuell befürchten – verknüpft zwei traditionelle Bereiche miteinander; die mögen wichtig und ehrwürdig sein, aber besitzen sie je für sich oder als Verknüpfung auch Gegenwartsrelevanz? Besteht hier nicht die Gefahr, daß Traditionalismen unerkannt addiert werden und daß dadurch gerade kein Weg zu den Menschen der Gegenwart oder zu einem für sie nachvollziehbaren Gottesdienst eröffnet wird?1
Ein Vortrag über »Liturgie und Bibel« – so mögen die kundigen Gottesdienstbesucher und Liturgiekenner unter Ihnen befürchten – könnte aber auch längst Bekanntes bloß wiederholen: die biblischen Fundamente der Liturgie,2 der dogmatisch erfassbare Zusammenhang von »Gottes-Wort« und »Gottes-Dienst«,3 die zahlreichen biblischen Anklänge in Gebeten, Liedrufen und Chorälen,4 die Rezitation biblischer Texte im Introitus, in den Lesungen, in den Grunderzählungen von Taufe und Abendmahl oder im aaronitischen Segen. Gibt es hier überhaupt noch Raum für Neuentdeckungen und Veränderungspotentiale?
Solche Fragen sind keineswegs rhetorisch gemeint, sondern beschäftigten mich durchgehend während meines Nachdenkens. Ich lade Sie ein, mit mir einen Durchgang durch das Thema zu unternehmen. Der Durchgang gleicht allerdings eher einer Bergtour: Hier sind auch mühevolle Strecken zu bewältigen, der Berg der bisherigen Forschungsleistungen langsam ansteigend zu umrunden, bevor wir den Gipfel erreichen, der uns klarer sehen läßt. Aber keine Angst! Eine Hochgebirgstour wird es nicht!
1. Klärung des Vorhabens – Vorbereitung der Ausrüstung
In meiner Probevorlesung im Juni 2000 habe ich den Zusammenhang von Praktischer Theologie und Bibel in einem ersten Anlauf skizziert. Ich habe unbescheiden behauptet, daß eine Neubestimmung Praktischer Theologie als Wahrnehmungswissenschaft – hierzu gibt es unterschiedliche Versuche – zuerst darauf angewiesen ist, die Bibel wahrzunehmen. Das bedeutet: Praktische Theologie hat das Geflecht wissenschaftlicher Exegesen und engagierter Lektüren der Bibel zu berücksichtigen und wird hierbei auf eine Pluralität stoßen, die ihr selbst zu Sprach- und Erkenntnisgewinnen verhilft. Dies muß allerdings in den einzelnen Handlungsfeldern der Praktischen Theologie konkret erwiesen werden.5 Mein heutiges Vorhaben zielt auf einen solchen Erweis im Handlungsfeld »Liturgie«.
Worin besteht meine Ausrüstung? Ich beginne zunächst voraussetzungsarm und wähle zwei Unterscheidungen.
Die erste Unterscheidung betrifft die Bibel.6 Sie läßt sich in drei Gestalten beschreiben, denen wiederum drei Funktionen entsprechen: Als Altarbibel symbolisiert sie das Bekenntnisbuch der Kirche, als Familienbibel das Erbauungsbuch des einzelnen und der Familie, als wissenschaftliche Bibelausgabe das Quellenbuch für Wissenschaft und interessierte Öffentlichkeit. Diese typisierten Gestalten lassen sich weiter differenzieren: Zur Altarbibel gehören noch Lektionar und Kanzelbibel, zur Familienbibel z. B. die Herrnhuter Losungen, biblische Abreißkalender und Erbauungsliteratur, und zu den wissenschaftlichen Ausgaben gehören noch Schul- und andere Studienbibeln. Es bleibt aber bei den drei Grundfunktionen: Bekenntnisbuch, Erbauungsbuch, Quellenbuch.
Die zweite – häufig gebrauchte – Unterscheidung ist methodologischer Art. Ich strukturiere in Reflexionen zu prinzipiellen, formalenund materialen Fragen. Das erscheint mir nach wie vor heuristisch aussichtsreich, würde allerdings problematisch, wenn Interdependenzen außer Acht blieben und bloße Deduktionen gewollt wären.
Die letzte Unterscheidung bildet die Struktur der nachfolgenden Überlegungen;