Die Leben des Gaston Chevalier. André David Winter
und aus der anderen eine Blume zauberte. Sich dann wie ein Kreisel um sich selbst drehte, schneller und schneller, bis aus seinem Hosenbein ein Äffchen sprang und von dort auf Gastons Schulter. Dann sprang auch Yves wieder auf die Beine und verneigte sich vor dem »hoch verehrten« Publikum.
Gaston nahm die Mütze ab und ging damit durch die Reihen. Wenn eine dralle Mademoiselle darunter war, fragte er sie mit Tränen in den Augen – auch das hatte er schon gelernt:
»Kommst du uns besuchen?«
»Hast du denn keine Maman?«
»Nein, sie ist bei meiner Geburt gestorben. Willst du?«
»Ist der Schlangenmensch dein Papa?«
Sie blickte zu ihm hinüber, er schickte ihr einen sehnsüchtigen Blick.
»Ja, und oft ist er so traurig, dass wir zusammen weinen. Am schlimmsten ist es, wenn wir nichts zu essen haben.«
»Wo wohnt ihr denn?«
»Unser Wagen steht bei der alten Mühle. Komm uns doch besuchen.«
Sie kamen meist, immer hatten sie etwas zu essen dabei. Sie aßen zusammen, Gaston weinte, Yves nahm ihn in den Arm.
»Nicht doch, mein Junge, jetzt haben wir ja was zu essen und sogar eine Maman für ein paar Stunden.«
Wenn Gaston in seinen Armen »eingeschlafen« war, legte er ihn auf seinen Strohsack. Danach brauchte es nicht mehr viel, Yves spielte die Rolle des traurigen Witwers brillant weiter und bekam meist, was er wollte. Gaston schlich aus dem Wagen und wartete draußen. Er zog Paulettes Abschiedsgeschenk aus der Hosentasche und öffnete es zum hundertsten Mal. Die falschen Perlen im weißen Haarband schimmerten im Schein des Mondlichts.
Manchmal blieben die Mädchen auch länger, und sie spielten für ein paar Wochen Familie, bis Yves der Kleinen überdrüssig war.
»Pack deine Sachen und geh.«
»Ich verstehe nicht.«
»Geh, hab ich gesagt.«
»Aber wie soll ich denn nach Hause kommen, ich …«
»Va-t’en!«
Schluchzend packte sie ihre Habseligkeiten zusammen und verließ den Wagen. Gaston schenkte seinem Vater ein Glas Pernod ein.
Ein paar Monate nach ihrem Aufbruch aus Castillon kamen sie in einen Ort, in dem Gaston auf seiner Runde ein Plakat des Grand Cirque Milano entdeckte. Noch mehr erstaunte ihn, dass das heutige Datum darauf klebte. Der Cirque war also zurück aus Amerika. Jetzt konnten sie gemeinsam auf Tournee gehen, und Gaston würde sie alle kennenlernen.
»Hercule, der Kraftmensch« stand als Überschrift auf dem Plakat. Darunter ein Bild, das einen kahlköpfigen Riesen zeigte, der sich mit seinen Zähnen an einem Trapez festbiss. An seinen Beinen hing eine Frau in einem Fledermauskostüm und schwebte durchs Zelt. Gaston jubelte, er schaute sich das Plakat noch einmal an. Die Vorstellung begann um sieben, auf der Gemeindewiese. Er wollte sie unbedingt sehen, Papa würde es bestimmt erlauben. Außer sich vor Freude rannte er los, um ihm zu berichten. Plötzlich hielt er inne. War das denn möglich? Konnten sie schon zurück sein? Amerika war doch so groß, hatte Papa gesagt. Und zwischen hier und dort war ein Meer, das noch viel größer war. Mit Seeungeheuern darin, die ganze Schiffe verschlucken konnten. Hatte Papa ihn angelogen? Waren sie gar nie in Amerika gewesen?
Er lief weiter. Auf dem Dorfplatz sah er eine Menge um ihren Wagen stehen. Es sah nicht gut aus. Gaston drängte sich zwischen den Gaffern durch und sah, wie der Kraftmensch, den er eben auf dem Plakat gesehen hatte, versuchte, seinen Papa in Stücke zu reißen. Doch Yves konnte sich befreien und flüchtete in den Wagen. Der Riese polterte an die Tür, fluchte, schrie.
»Mach die Tür auf, du elender Zwerg, sonst schlage ich sie ein.«
Gedämpft hörte er seinen Vater von innen rufen.
»Ich denk nicht dran, du hirnloser Koloss.«
Der andere schlug mit seinen Pranken so heftig gegen die Tür, dass Gaston dachte, sie würde bersten. Doch sie hielt. Der Riese schrie weiter.
»Mach auf, du Hurenbock.«
Die Tür blieb zu. Gaston sah den Hünen schon die Tür mit seinen Zähnen aufbeißen. Doch er tat es nicht. Vielleicht war er wirklich hirnlos. Gaston hoffte es.
Endlich sah er einen Gendarmen, der sich einen Weg durch die Menge bahnte.
»Platz da, macht Platz.«
Zum Tobenden gewandt, fuhr er fort.
»Hör auf damit, sofort.«
Der Angesprochene wandte sich um.
»Das geht dich nichts an, das ist eine Sache unter Männern. Geh. Geht alle weiter«, schrie er den Gendarmen und die Gaffer an. Wieder riss er an der Tür. Der Gendarm zog seine Pistole.
»Zum letzten Mal, lass die Tür los.«
Doch der Mann hörte nicht auf, der Landjäger schoss in die Luft. Die Menge sprengte erschrocken auseinander.
»Fertig jetzt, ich meine es ernst. Ich will euch beide hier nie mehr sehen. Den Zwerg nicht und dich nicht, verstanden.«
Der Schuss hatte den Riesen endlich zur Räson gebracht. Er ließ die Tür los und stampfte davon. Im Weglaufen rief er noch:
»Lass dich nie mehr in der Nähe meiner Frau blicken, Yves Chevalier, sonst besorg ich’s dir.«
»So wie ich ihr«, hörte man aus dem Innern des Wagens. Die Menge grölte. Der Riese drehte sich wieder um, sein Kopf war hochrot. Der Gendarm hob noch einmal die Waffe.
»Allez, va-t’en.«
Als der Mann außer Sichtweite war, öffnete sich die Wagentür. Yves Chevalier sprang mit drei Saltos auf den Platz hinaus.
Applaus ertönte. Gaston stellte sich neben seinen Vater und verneigte sich mit ihm.
»Meine Damen und Herren, die Aufführung kann weitergehen. Entschuldigen Sie die kleine Störung, sie war leider größer als ich.«
Wieder Gelächter.
Der Gendarm steckte seine Waffe ein.
»Packt eure Sachen und macht, dass ihr fortkommt.«
Doch die Menge protestierte.
»Lassen Sie ihn, Monsieur Morel. So etwas sieht man nicht alle Tage.«
Die meisten hofften wohl, der Gehörnte würde noch einmal umkehren und das Spektakel von vorne beginnen.
Der Gendarm zwirbelte seinen Bart.
»Nun gut, aber nachher fort mit euch. Verstanden?«
Papa lächelte sein bezauberndstes Lächeln und verneigte sich abermals vor dem »hochverehrten Publikum«.
Gaston ging nach der Vorstellung durch die Reihen und hielt seine Mütze hin. Noch nie hatte er so viele Münzen eingesammelt.
Gaston fragte nie mehr nach dem Grand Cirque. Und war es denn so schlimm, dass sie alleine unterwegs waren? Nein, er liebte ihr Vagabundenleben zu zweit oder zu dritt, obwohl er von morgens bis abends mitanpacken musste. Er machte Feuer, kochte, wusch ab, putzte, fütterte das Äffchen, lief ins Nachbardorf, klebte dort schon die Plakate für den nächsten Tag, lief rufend durch die Gassen, sammelte das Geld ein, übte mit Yves kleine Nummern und nutzte seine Chancen beim Boxen. Er besaß nicht die Gelenkigkeit und Élasticité seines Vaters, aber schon bald fragte auch er die Leute, auf dem Kopf stehend, nach dem Weg. Oder sie standen beide im Kopfstand da und sprachen laut darüber, warum die Leute, die an ihnen vorbeigingen, dies auf so umständliche Weise taten.
»Sie laufen alle auf ihren Füßen, ob du’s glaubst oder nicht«, sagte Yves.
»Nein, das ist nicht wahr.«
»Schau selbst, da kommt wieder einer.«
Yves zeigte auf einen Passanten.