Mein Freund Sisyphos. Michael Bohm
von Fernau verbunden, bilden den wichtigsten Wegweiser zur Rückschau auf meine Vergangenheit. Immer wieder belästigen mich meine Erinnerungen, obwohl ich sie nicht sehen will, jedenfalls nicht bestimmte Kapitel davon.
Wie jeden Tag laufe ich in der Früh mehrere Kilometer, stets die gleiche Strecke. Am Anfang fiel es mir schwer, heute ist es Routine. Es ist schon so wie lockeres Auslaufen nach dem Aufstehen. Danach unter die Dusche und dann spaziere ich zum Frühstück hinunter in den Ort.
Ich habe Zeit, vor allem viel Zeit zum Denken, sitze auf der Terrasse meines Hauses auf der Insel, im Schatten unter einer orangen Markise, sehe in die Weite der Ebene unter mir, ein pelagischer Blick. Eigentlich fühle ich mich wohl in meiner Haut, eigentlich. Da mir die Vergangenheit im Moment wenig behagt, bewege ich meine Gedanken in die Zukunft hinein. Mir wurde ein erstaunliches Angebot unterbreitet, das mir allerdings zunehmend heftiges Kopfzerbrechen macht. Die Versuchung, es vielleicht doch anzunehmen, weil es einer gewissen Genugtuung gleichkäme, hält mich fest. Um vielleicht Klarheit zu gewinnen, will ich eine Analyse meiner Erinnerungen wagen, mich auf den langen Weg durch meine Vergangenheit machen, über meinen Lebenslauf nachdenken. Noch einmal will ich zugeben, es fällt mir nicht leicht, in diesem so besonderen Fotoalbum zu blättern, sind doch nicht nur farbige Bilder, sondern auch schwarz-weiße, sogar ziemlich dunkle und auch völlig missratene Aufnahmen darunter. Beim Betrachten mancher Szenen wollen nicht wenige wieder Wirklichkeit werden, bedrohen ernsthaft mein Jetzt, versuchen, mich in Düsternis zu manövrieren. Nur der schnelle Blick in die Schönheit der Natur um mich herum vermag mich temporär vor depressiven Angriffen bewahren. Oder aber die andere Möglichkeit der Abwehr, nämlich die unbedingte Wahrheit zu suchen, der ich mich stellen sollte? Mein Bauchgefühl sagt mir, Letzteres sei meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Ich muss mir ja nur selbst in die Augen sehen.
Wie lange liegt denn die Szene zurück, die mir gerade in den Sinn kommt?
Das gelbe Haus
Nicht mit den Gedanken ganz in der Gegenwart, mehr mit dem Gefühl im Damals, war ich unterwegs auf der schmalen Straße am Fluss entlang, der hier eilig eine enge Stelle passiert, auf dem Weg zu einem Haus, das ich so gut kannte, das mir genau vor Augen stand. Gleich nach der leichten Biegung würde ich es sehen. Fabians Elternhaus. Es war in einem warmen Gelbton gestrichen und sah wirklich noch heute genauso aus, wie es mir seit frühen Jugendjahren vertraut war. Fenster und die Haustür waren mit einem weißen handbreiten Rahmen eingefasst, wie auch die Läden in einem leicht getönten Weiß gehalten waren. Auch der Holzzaun war weiß. Alles sehr gepflegt, wie gerade eben frisch geputzt. Im Vorgarten standen Büsche wie Wachsoldaten und wenn sie blühten, ich wusste es, dann sah das wunderschön aus. Die Bilder des großen Gartens hinter dem Haus mit den alten Obstbäumen sowie die weiße Holzveranda, auf der wir so oft saßen und die Köpfe zusammensteckten, waren mir so vertraut, als wäre ich erst gestern hier gewesen.
Wann habe ich das letzte Mal an der Vorgartentür gestanden, nach oben zu dem Fenster geschaut, an dem das Gesicht Fabians erscheinen würde, nachdem ich die Klingel in unserem vereinbarten Takt gedrückt hatte? Nein, ich weigere mich, den Jahren nachzurechnen und schon gar nicht in diesem Text festzuschreiben. Sentimentalität liegt mir so gar nicht, bin ich doch alles andere als ein Gefühlstyp.
Auf mein Klingeln, das ich schwach im Haus hallen hörte, ging mein Kopf hoch zu dem Fenster, von wo aus mir sehr wahrscheinlich nicht Fabian entgegenfeixen würde.
Wer stattdessen am Fenster zu mir herunterlächelte, war jemand ganz anderes. Eine Frau, an die ich, sogar zu dieser Zeit noch, mit leiser Melancholie, einer schon schnurrigen Sehnsucht dachte.
Monika.
Ungefähr zwölf muss ich gewesen sein, als ich Monika zum ersten Mal gesehen habe. Es ist die Zeit, in der die Fußball- und Klassenkameradschaft mit ihrem Bruder langsam zu einer Freundschaft heranwächst. Sie ist ein Mädchen mit dunklen wuscheligen Haaren, das mit seinen acht Jahren irgendwie zum Hintergrund gehört, wenn ich bei Fabian zu Hause bin.
Ich möchte mich an wenige wichtige Momentaufnahmen aus den Jahren erinnern, als ich blind an unsere Freundschaft glaubte und Monika zu mir zu gehören schien. Fabian und Monika waren mir zu geschenkten Geschwistern geworden, die ich nicht hatte. Monika würde immer meine Schwester bleiben, dachte ich damals. Natürlich bin ich, nachdem mein Interesse an Mädchen bei mir erwacht ist, in das schöne Mädchen verliebt. Und sie in mich, wie sie mir Jahre später beteuerte.
Wir haben uns verabredet, wollen ins Kino gehen und ich hole sie ab. Monikas warme Hand in der meinen, steigen wir die hundert Stufen der Hubertreppe hinauf, die für mich an diesem frühen Abend eine Leiter in den Himmel ist. Auch im Kino halte ich ihre Hand, sie legt ihren Kopf an meine Schulter. Nach dem Film spazieren wir durch den dunklen Stadtpark, ich darf ihr Gesicht streicheln, sie aber nicht küssen, meine Hände auf ihren Brüsten gestattet sie, unter den leichten Pullover vorzudringen nicht, sie zu umarmen ist mir erlaubt, mich an sie zu pressen bleibt verboten. Es ist dennoch aufregend schön mit ihr in der ummantelnden leicht flüsternden Düsternis des Parks.
Ich treffe mich mit Fabian beim Griechen. Wir trinken roten Wein, reden kaum. Natürlich fällt mir das auf und ich bin gespannt, wann Fabian sagt, was er mir sagen will. Dann lässt er die Bombe platzen: Monika ist schwanger! Er schaut mir in die Augen. Seine blauen sind sehr dunkel, was nur vorkommt, wenn er innerlich sehr erregt ist. Ich hebe beide Arme, zeige meine Handflächen, schüttle den Kopf. Ich bin nicht der Vater dieses Kindes, will ich ihm damit signalisieren. Wir müssen noch ein Glas trinken, viel reden, bis er mir glaubt und wissen will, was ich nun zu tun gedenke? Ich, Fabian? Wer sonst soll diese Unordnung zur falschen Zeit zurück in den Alltag lotsen? Mir fällt tatsächlich über Nacht eine mögliche Lösung ein. Ich lasse Fabian einen Termin mit seinem Großvater ausmachen und fahre dann mit dem Zug hinaus ins Wittelsbacher Land, wo der alte Baron Hubert von Fernau seine stattliche Villa hat. Er kennt mich, empfängt mich so freudig wie einen seiner Enkel. Wir setzen uns in den Wintergarten mit Blick in den weiten Garten mit den alten Bäumen. Als ich nach zwei Stunden die Villa verlasse, bleibt mir die Aufgabe, Monika von dem zu überzeugen, was der Baron und ich besprochen haben. Es ist nicht leicht, aber sie hat sich gedanklich bereits mit den Alternativen, die ihr bleiben, befasst. In zwei Wochen werden die Sommerferien beginnen. Für Monika wird danach das Schuljahr anfangen, das mit ihrem Abitur enden soll. Niemand wundert sich, dass Monika und ich der Einladung des Großvaters folgen. Er hat einen Arzt einer Privatklinik am Chiemsee verpflichtet, der Enkelin zu helfen, die Geburt eines Urenkels für einige Jahre zu verschieben. Ich begleite Monika zum Chiemsee, bin der Letzte, den sie sieht, bevor sie in der Narkose versinkt, und bin auch der Erste, den sie sieht, der ihre Hand hält, als sie erwacht.
Ab da ist alles anders, und ich will es nicht wahrhaben.
In der Brasserie suche ich die schönsten Pralinen aus dem Angebot heraus, lasse sie von der Verkäuferin hübsch in eine Schachtel einpacken. Voll gesteigerter Vorfreude erscheine ich zu Monikas 18. Geburtstag, um ihr meine Glückwünsche mit süßen Grüßen ins kleine Ohr zu flüstern. Leider ist sie eben auf dem Sprung, um mit zwei Freundinnen zu feiern. Ein Abend nur für Mädels, mein Lieber, lacht sie. Die Pralinen nimmt Monika mit dem wunderbaren Lächeln einer Prinzessin gleich und selbstverständlich in Empfang.
Noch immer bin ich taub und blind, der reine Träumer.
Monika und ich sind auf einem unserer selten gewordenen Spaziergänge. Regelrecht belagert hatte ich sie, bis sie schließlich wieder einmal Ja sagt. Mein Kopf behauptet, ziemlich deutlich, sie weiche mir aus. Es schneit schon leicht, als wir aufbrechen. Eine gute Stunde später müssen wir uns vor der Wut eines Schneesturms in Sicherheit bringen. In der wohligen Wärme des Kachelofens in der guten Stube ihres Elternhauses kuscheln wir uns eng zusammen. Und wider jeder Vernunft überkommt mich der Wunsch nach Zärtlichkeit, aber der Versuch wird von ihr abgewiesen, kein Kuscheln mehr. Ich nehme ihren Korb so wahr, als hätte sie mir einen Kübel Eiswasser über den Kopf gegossen. Einige Momente habe ich erwogen, aufzustehen und das Haus zu verlassen. Dann bleibe ich doch sitzen, bin wie gelähmt. Monika lächelt süß, sagt, sie will einfach nicht, dass ich sie anfasse. Sie schaut mich mit ihren dunklen Augen an und sagt, ich strahle Kälte aus, in meiner Nähe friere sie. Und sie habe Angst vor mir. Ich verstehe sie nicht. Was sollen diese Worte? Was soll diese Zurückweisung?