Eine Spur von Glück. Monika Hinterberger
jegliche Hinweise fehlen, die auf einen kultischen Zusammenhang schließen ließen, kann mit der Lesenden auch keine Priesterin gemeint sein. Und nichts spricht dafür, in ihr eine gebildete Sklavin in einem athenischen Haushalt zu sehen. Ihr gegenüber der Herrin des Hauses unfreier Status wäre etwa durch ihr kurz geschnittenes Haar ins Bild gesetzt worden.
Wer aber ist sie dann?
Wen hatte der attische Künstler vor Augen, als er diese Lekythos bemalte? Gefäße dieser Art enthielten Parfums und duftende Öle. Sie gehörten zur Toilette der Frauen oder waren für den Gebrauch bei Begräbniszeremonien bestimmt. Heute kann das kleine, mehr als zweitausend Jahre alte Salbgefäß mit der Darstellung einer lesenden Frau in der Antikensammlung des Pariser Louvre in Augenschein genommen werden. Es misst gerade einmal zweiundzwanzig Zentimeter Höhe. Für wen wurde dieses Gefäß geschaffen? Wer hatte es in Gebrauch? Die auf die Zeit um 440-430 v. Chr. datierte Lekythos wird dem sogenannten Klügmann-Maler zugeschrieben, von dem überliefert ist, dass er mit Vorliebe Szenen aus dem Frauenleben malte und dabei Frauen stets allein darstellte. Etliche Vasenbilder des 5. vorchristlichen Jahrhunderts zeigen lesende Frauen zumeist in der Gesellschaft anderer Frauen. Hier jedoch ist die in ihre Lektüre vertiefte Frau ohne Begleitung abgebildet. Eine des Lesens und wohl auch des Schreibens kundige Frau? Eine gebildete Athenerin?
Mütter und Töchter
Schenkten wir in erster Linie der von männlichen Autoren dominierten antiken Literatur Beachtung, müssten wir annehmen, dass der griechischen Frau jedweder Zugang zur Bildung verwehrt wurde. Eingeschlossen, wie sie angeblich war, schien sie ohne Teilhabe am öffentlichen Leben zu sein und ausschließlich mit Dingen der Haushaltsführung befasst. Der Lebenswirklichkeit entsprach dies nicht. Weibliche Lebenswelten beinhalteten mehr und anderes, waren vielfältiger, reicher. Dank archäologischer Zeugnisse, insbesondere der attischen Vasenbilder, und neuerer, vor allem frauenhistorischer Forschungen gelingt heute ein differenzierteres Bild der Frau in der Antike. Wertvolle Anregungen für mein Nachsinnen über die Lesende auf der kleinen Lekythos verdanke ich den Untersuchungen etlicher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Leben und zur Geschichte der Erziehung und Bildung von Frauen im Athen der klassischen Zeit.
Eine lesende Frau – das war für die antike griechische Gesellschaft weniger ungewöhnlich, als die Geschichtsschreibung vor allem seit dem 19. Jahrhundert lange Zeit glauben ließ. Als im Verlauf der Demokratisierung der athenischen Gesellschaft eine Lese- und Schreibfähigkeit, eine allgemeine Bildung überhaupt, an Bedeutung gewann, wurde auch der Erziehung der Mädchen besondere Beachtung geschenkt. Und seit attische Vasenmaler zu Anfang des 5. Jahrhunderts v. Chr. begannen, den lesenden Menschen darzustellen, sind auch weibliche Lesende auf den Bildern zu finden. Als frühestes Beispiel gilt eine weißgrundige Lekythos aus der Zeit um 460-450 v. Chr.: Eine auf einem Klismos sitzende junge Frau liest einer vor ihr stehenden Gefährtin aus einer offenen Schriftrolle vor.
Wo hatte sie zu lesen gelernt?
Wie mag ihre Erziehung ausgesehen haben? Vieles spricht dafür, dass in klassischer Zeit eine elementare Bildung im häuslichen Umfeld erfolgte. Die Kinder, Mädchen wie Jungen, wuchsen in der Obhut ihrer Mütter und den zum Haushalt gehörenden und keineswegs ungebildeten Ammen oder Dienerinnen auf, die ihre Schritte ins Leben begleiteten und ihre Entwicklung sorgsam förderten. In wohlhabenden Familien wurde zudem für die Jungen ein Paidagogos mit Erziehungsaufgaben betraut – ein Umstand, der nicht selten auch den Mädchen der Familie zugutekam. Literarischer Überlieferung nach war für die Mädchen, anders als für die Jungen, ein Unterricht außer Hauses nicht vorgesehen, aber auch nicht ausgeschlossen. Einige Vasenbilder wissen davon zu erzählen. Der Innenteil einer rotfigurigen Trinkschale aus der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. etwa zeigt ein Mädchen, das ein Schreibtäfelchen und einen Stylos mit sich trägt. Eine junge Frau an seiner Seite hält seine Hand fest umschlossen. Wurde das Mädchen auf seinem Weg zum Unterricht außerhalb des Hauses begleitet? Oder waren sie beide Schülerinnen, vielleicht Schwestern, die zur Schule eilten? Trafen sie dort mit anderen Mädchen zusammen, um gemeinsam zu lernen? Gab es so etwas wie einen Zusammenschluss der Frauen, von Müttern, denen der Unterricht für ihre Töchter so sehr am Herzen lag, dass sie einen solchen nachbarschaftlich organisierten? Diese Überlegungen rühren von einer Darstellung auf der Außenseite dieser Schale her: Sechs etwa gleichaltrige Frauen, alle stehend abgebildet, diskutieren angeregt miteinander. Die Szene spielt in einem Frauengemach, einem Ort, an dem auf vielfältige Weise Begegnungen, Austausch und soziales Miteinander von Frauen stattfanden. Wurde hier eine alltägliche Szene auf einer Schale festgehalten? Ein Ausschnitt einer weiblichen Lebenswelt im klassischen Athen? Gaben Zusammenkünfte dieser Art den Töchtern Gelegenheit, sich zu treffen, einen wie auch immer gestalteten, außerhäuslichen Unterricht zu besuchen?
Doch nicht nur Lesen und Schreiben gehörten zum Unterricht für Mädchen. Die Musik war für den antiken Menschen im Alltag wie im Kultus von überragender Bedeutung, weshalb viel Sinnen und Trachten auf die musische Bildung der Mädchen gerichtet war. Das Spielen eines Instrumentes, das Singen wie das Tanzen waren selbstverständlich Teil der weiblichen Lebenswelt. Und nicht selten war die musische Erziehung der Mädchen unter den Schutz unsterblicher Musen gestellt, wobei der Tanz einen herausragenden Platz einnahm. Tanzschulszenen gehörten deshalb von Beginn des 5. vorchristlichen Jahrhunderts an zu den beliebten Themen der attischen Vasenmalerei. In schöne Gewänder gekleidete Tanzlehrerinnen bereiteten die jungen Mädchen mit Hingabe auf ihre Auftritte bei kultischen Feiern und Prozessionen, manchmal auch auf Wettbewerbe vor. Andere Vasenbilder lassen vermuten, dass der Musikunterricht in einem eigens für die Mädchen bestimmten Schulraum stattfand. Manche legen die Vorstellung nahe, dass Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet wurden. Ein Vasenbild aus der Zeit um 460 v. Chr. jedenfalls zeigt eine Schülerin mit ihrer Doppelflöte inmitten von Knaben in den Räumen einer Musikschule.
Ich versuche, mir die lesende Frau auf der kleinen Lekythos in jungen Jahren vorzustellen: als ein Mädchen, das lesen und schreiben gelernt hatte, das das Instrumentenspiel beherrschte, das gerne sang und tanzte. Vielleicht hatte es als Reigentänzerin an den Kultfeiern zu Ehren der Stadtgöttin Athene am Vorabend der großen Panathenäen in Athen teilgenommen? Oder an den Feiern zu Ehren Artemis’ oder Aphrodites, Heras oder Demeters? Diese festlichen Reigentänze der Mädchen zu Ehren der Göttinnen und Götter waren in verschiedenen Regionen Griechenlands weit verbreitet. Die Teilnahme der Mädchen an kultischen Festen diente ihrer Aufnahme in die Gesellschaft und gehörte wie eine musisch-literarische Erziehung zur Vorbereitung auf ihr Leben als erwachsene Frau – und das bedeutete in aller Regel ein Leben als Ehefrau und Mutter. Zahlreiche Hochzeitsdarstellungen auf attischen Vasen veranschaulichen den Wert, den die antike Gesellschaft der Ehe beimaß, nicht zuletzt auch für das Gelingen einer demokratischen Ordnung.
Und so erweist sich mir die Dargestellte auf der Lekythos schließlich als eine verheiratete Frau, als eine belesene, selbstbewusste Athenerin.
Lesen und Schreiben
Aufrecht steht sie da.
Die empfindliche Schriftrolle aus Papyrus mit beiden Händen haltend.
In der Zeit, als die Lekythos entstand, gehörten literarische wie wissenschaftliche Texte vielfach zum Alltag des griechischen Menschen, insbesondere zur Lebenswelt der Bürgerinnen und Bürger Athens, des kulturellen und politischen Zentrums der griechischen Welt. In Athen, aber auch in anderen Regionen, konnten die Menschen seit dem frühen 5. Jahrhundert v. Chr. mehrheitlich lesen und schreiben. Lesen zu können, wurde zunehmend bedeutungsvoll, für jeden Einzelnen wie für das Leben innerhalb einer demokratischen Gesellschaft. Denn für wen, wenn nicht die Bürgerschaft, wurden Gesetzestexte – in Stein gehauen – auf der Agora oder vor Heiligtümern öffentlich gemacht? Die Volksbeschlüsse sollten möglichst von vielen Menschen gelesen und verstanden werden. Und seit Langem schon waren Tonscherben in Gebrauch, die für kleine Mitteilungen, Bescheinigungen oder auch Schulübungen verwendet wurden.
So rückte der lesende Mensch seit dem frühen 5. Jahrhundert v. Chr. mehr und mehr ins Zentrum des Interesses und fand sich