Tod eines SA-Mannes. Dieter Heymann
konnte.
Langsam öffnete sich die Tür und der elfjährige Hans betrat Hand in Hand mit der siebenjährigen Gisela erschrockenen Gesichts die Küche. Beide ahnten, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
Zwar versuchten Gerda und Bernhard Silberstein, die Situation herunterzuspielen, um die Kinder zu beruhigen; aber diese bekamen ja jeden Tag in der Schule die Anfeindungen gegenüber Juden selbst zu spüren und ahnten nur zu genau, was passiert sein musste.
»Wie erklärt man unschuldigen Kindern, dass man als Mensch jüdischen Glaubens praktisch von heute auf morgen keinerlei Rechte mehr im eigenen Land hat«, dachte der Textilkaufmann frustriert.
Die SA kam am späten Abend geschlossen zurück. Laut grölend betraten sie erneut den »Emskrug«. Sie hatten sich zuvor auf dem Thie, einem Platz unweit des Marktes, getroffen und aufgestellt. Mit Fackeln versehen und eine Fahnenabordnung mitführend waren sie in einem Rundmarsch durch die Straßen Rheines gezogen und hatten dabei das Horst-Wessel- und das Deutschlandlied gesungen. An ihrem Ziel, dem mit vielen Menschen gut gefüllten mittelalterlichen Marktplatz, hatten sie sich vor dem schön anzusehenden Letterhaus-Hotel mit seinem von Säulen gestützten Balkon aufgereiht. Das Hotel galt mit seinem imposanten Treppengiebel als das erste Haus am Platz und war in den letzten Jahren schon des Öfteren Bühne für die Reden lokaler Politiker gewesen.
Vom Balkon aus hatten Bürgermeister Schüttemeyer und Kreisleiter Lewecke zu ihren Zuhörern gesprochen und dabei den Aufbruch in eine neue Zeit hervorgehoben. Beide hatten von den Maßnahmen der Regierung gegen die Massenarbeitslosigkeit und den Investitionen des Staates berichtet, die den Menschen wieder Lohn und Brot gebracht hätten. Mit politischen Gegnern und Feinden Deutschlands sei im vergangenen Jahr aufgeräumt worden. Dem Land stehe unter der Führung des Reichskanzlers Adolf Hitler eine goldene Zukunft bevor; vor allem Lewecke beschwor die Menschen Rheines, sich in die neue Volksgemeinschaft einzubringen. Die Anwesenden hatten ihre stürmische Begeisterung für die neuen Machthaber mit vielfachen »Heil«-Rufen zum Ausdruck gebracht.
Nach der Kundgebung hatte sich der Marktplatz angesichts der ungemütlichen Temperaturen zügig geleert und die SA war auf der Münsterstraße zu ihrem Lokal abmarschiert. Schnell füllte sich der »Emskrug« und zahlreiche Getränkebestellungen wurden dem Wirt Alfons Hergemöller zugerufen.
Der kam mit dem Einschenken der Getränke kaum nach. Johanna machte beim Spülen Tempo; zwischendurch musste sie das Bier an den vielen Tischen ausliefern und leere Gläser abräumen.
Am einzigen Tisch rechts neben der Eingangstür hatten Felix Baumann und Paul Kemper Platz genommen. Zu ihnen gesellte sich ausgerechnet Erwin Jansen, vermutlich weil er von diesem Platz eine gute Sicht auf Johanna hatte.
»Wenn er wüsste, mit wem er da an einem Tisch sitzt«, dachte sie mit einem flüchtigen Blick auf Felix und musste insgeheim lächeln.
Der Respekt einflößende Heinrich Plagemann betrat die Wirtsstube, schaute sich um und setzte sich ebenfalls dazu. Den letzten freien Stuhl am Tisch sicherte sich Ewald Schmalstieg, der sich offenbar wieder mit Erwin vertragen hatte.
Johanna beeilte sich, den Männern die erste Runde Bier zu servieren.
Als sie die Getränke auf den Tisch stellte, fühlte sie die Blicke Erwins und Ewalds auf sich ruhen. Da sie beim Servieren Ewald ihren Rücken zuwandte, hatte sie bei ihm ein besonders unangenehmes Gefühl. Durch den Alkohol hatte er offenbar seine Hemmungen verloren und musterte unverhohlen ihren Allerwertesten. Sie befürchtete, im Laufe des Abends seine Hand auf ihrem Po zu spüren und nahm sich vor, bei der nächsten Runde von der anderen Seite des Tisches zu bedienen.
Sämtliche Sitzgelegenheiten im Schankraum waren besetzt, viele SA-Männer mussten stehen. Andere Gäste hatten die Wirtschaft bereits verlassen, als sich der Trupp näherte. Es herrschte ein gewaltiger Geräuschpegel und die Luft war von Zigarettenrauch durchzogen. Johanna war im Laufe des Abends pausenlos mit einem Tablett voller oder leerer Gläser unterwegs, zwischendurch musste sie immer wieder spülen.
Sie war froh, dass der Wirt sie nach einiger Zeit bat, aus der Vorratskammer im Innenhof drei neue Flaschen Weizenkorn zu holen.
Als sie dem Hinterausgang näher kam, spürte sie schon die kalte, aber erfrischende Luft. Zwei Männer kamen ihr entgegen, sie hatten sich vermutlich auf der Toilette, die sich ebenfalls im Innenhof befand, erleichtert.
Als sie die Außentür öffnete, sah sie Heinrich Plagemann, der Rudolf Fiedler am Kragen gepackt hatte und ihm etwas Bedrohliches ins Ohr brummte.
Fiedler hatte Johanna bemerkt, wandte seinen Kopf in ihre Richtung und riss die ohnehin entsetzten Augen noch weiter auf. Plagemann drehte sich langsam um und sagte nach einem kurzen Augenblick: »Ein Männergespräch … wir waren sowieso gerade fertig, oder Rudolf?«
»Ja, ja.«
Fiedler beeilte sich, sichtlich erleichtert, ins Wirtshaus zurückzugehen.
Plagemann raunte ihr im Vorbeigehen mit strengem Blick zu: »Du hast nichts gesehen!«
Sie bekam kein Wort heraus; so nickte sie nur hastig, bevor auch der Riese im Gebäude verschwunden war.
Nachdem sie im Vorratsraum gewesen war und dem Wirt das Verlangte ausgehändigt hatte, begab sie sich wieder an ihre Arbeit.
Den ersten Gästen konnte man den ausschweifenden Alkoholgenuss bereits deutlich anmerken. Lieder wurden gesungen und immer wieder auf Stabschef Röhm und Reichskanzler Hitler angestoßen.
Immer wenn sie Gläser zu spülen hatte, suchten Johannas Augen Felix. Dieser nahm in gewohnt zurückhaltender Art kaum an den Gesprächen an seinem Tisch teil und schien über etwas nachzudenken. Sein Sitznachbar Paul Kemper musste wohl gerade etwas Lustiges erzählt haben, denn alle anderen lachten auf einmal laut auf. Immerhin ließ sich auch Felix zu einem Lächeln hinreißen.
Die Gläser waren schon wieder leer und Erwin Jansen gab ihr ein Zeichen, Nachschub zu bringen, nicht ohne ihr einen Luftkuss zuzuwerfen.
Johanna verdrehte gedanklich die Augen. Sie konnte ihn einfach nicht ausstehen! Um ihm aus dem Weg zu gehen, vergaß sie ihren vorher gefassten Entschluss und kam mit fünf Gläsern Bier zwischen Heinrich Plagemann und Ewald Schmalstieg an den Tisch.
»Setz dich doch auf meinen Schoß, Schätzchen. Ich zahle die Runde anderweitig ab, du wirst es nicht bereuen«, hörte sie einen schmutzig grinsenden Erwin sagen, als sie plötzlich etwas an ihrem Hinterteil spürte. Ewald streichelte ungeniert ihren Po und lächelte sie dabei unzweideutig an.
Von Panik erfasst trat sie einen Schritt zurück und schlug seine Hand weg. Dabei fiel ein Glas um und der Inhalt ergoss sich über Heinrich Plagemanns braune Hose. Dieser sprang auf, holte aus und gab Schmalstieg eine schallende Ohrfeige, dass dieser fast von seinem Stuhl fiel.
»Du alter Schmierfink, meinst du immer noch, das junge Gemüse steht auf einen ungepflegten Greis wie dich? Schau dich nur mal selbst an, du machst dich ja lächerlich!«, machte Plagemann seinem Ärger Luft.
Schmalstieg hatte einen hochroten Kopf bekommen, seine Halsschlagader pulsierte heftig. Er konnte seinen Zorn nur mühsam unterdrücken, wusste aber, dass er bei einer Auseinandersetzung mit diesem Kraftprotz den Kürzeren ziehen würde. »Lässt deine Frau dich zuhause nicht mehr ran oder warum musst du so junge Küken begrabschen«, legte der Riese nach.
Die Gespräche waren verstummt, alle schauten Schmalstieg an. Der murmelte irgendetwas Unverständliches, schnappte sich seinen Mantel und verließ beleidigt das Lokal, ohne Plagemann noch eines Blickes zu würdigen.
In der Stille erklang mit einem Mal ein lautes Lachen.
»Der Schmalstieg wird wohl Geld in einen Bordellbesuch investieren müssen, damit er heute Nacht seine innere Ruhe findet«, amüsierte sich Erwin Jansen sichtlich. »Schätzchen, das Angebot von eben steht noch! Ich bin noch kein ausgedienter Wallach wie Schmalstieg, sondern ein junger wilder Hengst!«
Jetzt baute sich Plagemann, einmal in Rage, mit seinem mächtigen Körper vor Jansen auf: »Du mieses kleines Stück Dreck. Meinst du, wir wissen nicht, was mit deiner Verlobten war?