Lockdown: Das Anhalten der Welt. Fritz B. Simon

Lockdown: Das Anhalten der Welt - Fritz B. Simon


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und Ausstellungen der Hochkultur. Hier zeigt sich eine Gemeinsamkeit, die Anlass gibt, das Kunstsystem zu einem Kunstweltensystem zu erweitern: Die Akteure in all diesen Sparten haben das Ziel, Erlebniswelten, in denen sich Personen gern gemeinsam aufhalten, zu erschaffen. Dabei bestätigen einige dieser auf irgendeine Weise ästhetischen Arrangements bestehende Verhältnisse, andere kreieren Gegenwelten. Das nun verbotene gemeinsame Erleben wird zwar durch digitale Verbreitungsmedien in Teilen ermöglicht, aber die Fans der jeweiligen Genres bemerken die Künstlichkeit der Werke und Ereignisse. Unter solchen Bedingungen wird weniger verkauft, aber der Amateurismus gedeiht. Wenn engagierte Amateure auch noch mit leistungsstarken Gestaltungsmedien ausgestattet werden, könnte langfristig die Bedeutung der ganzen, weit über die Hochkultur hinausreichenden Wertsphäre steigen. Aber erst einmal lässt die Bedeutungsverschiebung hin zu einer Gegenwelt der existenziellen Bedrohung durch eine lebendige Virus-Wolke die handelsüblichen Fiktionen blass aussehen.

      Eine letzte Beobachtung ist wohl eher theorieintern von Interesse: Die Corona-Verschiebung legt nahe, dass es wenig ergiebig ist, die Massenmedien, das Gesundheitswesen und den Bildungssektor als Funktionssysteme aufzufassen. Die Massenmedien, einst als hierarchisch geordnete Informationsversorger einer allgemeinen Öffentlichkeit aktiv, sind zerfallen in Informationsproduzenten, die ihre Inhalte an den Erwartungen und Wünschen der Nutzer ausrichten. So wird die vermeintliche Leitunterscheidung Information/Nicht-Information zum Spielmaterial des Unterhaltungsgewerbes. Das Gesundheitswesen wird klar beherrscht vom Code der Wissenschaft, speziell den Varianten der Biochemie, der Medizin und der Apparatetechnik. Gekoppelt sind Versicherungsorganisationen, Ausbildungsorganisationen, Pflegeeinrichtungen sowie die Lieferanten von Technik und Wirkstoffen. Die Sinnform der Sorge, als Erweiterung der familiären Beziehung, tritt zwar im akuten Zustand der Überlastung stärker in den Vordergrund, aber es ist zu bezweifeln, dass von dieser Anerkennung »nachher« viel bleibt. Im Bildungssektor werden weltweit, ähnlich wie im Gesundheitssektor, staatlich organisierte Grundversorgung und privat bezahlte Leistungen miteinander kombiniert. Die staatliche Organisation hat es auch ermöglicht, dass Versammlungen in Form von Schulunterricht sofort gestoppt werden konnten. Der Bildungssektor ist stark in das Spiel der Wissenschaft integriert, dennoch wird das Fehlen des gemeinsamen Erlebnisses als Verlust erlebt. Was verloren geht, sind etwa die starken Interaktionssysteme von Freundschaften, was gewonnen wird, ist die Individualisierung von Lerneinheiten, ermöglicht durch die rasche Weiter- und Neuentwicklung geeigneter digitaler Plattformen und Programme. Eigenständige Wertskalen werden in keinem der drei Fälle erkennbar. Es handelt sich eher um Konglomerate von Organisationen, in denen politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche, familiäre, ästhetische und oft auch religiöse Wertungen eine Rolle spielen.

      Ich gebe zu, dass aus dem Zwischenruf eher eine Suada geworden ist. Vielleicht liegt es daran, dass das Anhalten der Welt für Wissenschaftler eine grundlegende Methode ist, um die Möglichkeit der Reflexion, der Überprüfung der eigenen Wahrnehmung, zu gewinnen. Meist müssen sie solche Zustände mühsam herstellen oder können sie nur postulieren. Wenn nun um uns herum tatsächlich das gesellschaftliche Zusammenleben angehalten wird, und das mehr oder weniger weltweit, dann passiert so viel Ungewöhnliches und Neues, dass das Beobachten nur schwer ein Ende findet.

      Es gibt kein »gesundes« System

       von Fritz B. Simon

      Die Menge der Zwischenrufe macht es schwer, einen gemeinsamen, d. h. verbindenden Fokus der Aufmerksamkeit zu finden – zumal wir beide, die Hauptkontrahenten, sowieso die Tendenz haben, nur die Fragen zu beantworten, die wir uns selbst stellen … Aber trotzdem, hier mein Versuch, zunächst auf den Zwischenruf von Michael Hutter einzugehen:

      Seiner Beschreibung des Status quo stimme ich weitestgehend zu, vor allem, wie er den aktuellen Bedeutungsverlust bestimmter Wertsphären – ein Konzept, das er in diesem Kontext an die Stelle der Funktionssysteme setzt – charakterisiert. Daher gibt es für mich in der Hinsicht wenig Diskussionsbedarf.

      Was ich spannend finde, ist die (»eher theorieinterne«) Frage, ob Massenmedien, »Gesundheitssystem« (ein Begriff, den ich hier in Anführungsstriche setze) und der Bildungsbereich eigenständige Funktionssysteme sind. Meine Antworten dazu fallen – bei aller Vorsicht und Vorläufigkeit, d. h. sehr unsicher und wenig reflektiert – folgendermaßen aus:

      •Die Massenmedien sind inzwischen in erster Linie zu ganz normalen Teilnehmern des Wirtschaftssystems geworden. Sie verkaufen Produkte, genannt: »News«, wobei zwischen echt und fake vom Konsumenten unterschieden werden muss. Sie dienen nur begrenzt der Information der Öffentlichkeit, dafür eher spezifischen wirtschaftlichen Interessen und Interessengruppen, da sie ihren Wahrheitsanspruch aufgegeben haben oder er ihnen abgesprochen wird. Der Unterschied zwischen Nachrichten und Werbung schwindet. Dies stützt meines Erachtens meine These von der Übermacht der Wirtschaft, denn sie hat die Massenmedien kolonialisiert.

      •Das »Gesundheitssystem« scheint mir immer noch ein an der Unterscheidung krank/gesund orientiertes Funktionssystem zu sein. Es wird in seinen Handlungsmöglichkeiten vor allem durch Wirtschaft und Wissenschaften begrenzt. Im Rahmen der Corona-Krise haben die Wissenschaften (bzw. ein kleiner Teil davon) an Bedeutung (= Wert) gewonnen, was auf Kosten der Wirtschaft ging. Viele sogenannte Gesundheitsorganisationen leiden aktuell wirtschaftlich genauso stark wie andere Akteure des Wirtschaftssystems (z. B. keine lukrativen Operationen).

      •Über die Frage, ob der Bildungsbereich noch als Funktionssystem zu verstehen ist, müsste ich erst noch einmal länger nachdenken, das heißt, dazu kann und will ich im Moment nichts sagen.

      Nun zum letzten Beitrag von Steffen Roth. Auch dazu ist eigentlich mehr anzumerken, als hier jetzt möglich ist. Ich picke daher den letzten Vorschlag einer »Gesundheitswissenschaft« heraus, da er zumindest einen gewissen Bezug zur aktuellen Situation hat.

      Zunächst meine volle Zustimmung zu der Forderung, unterschiedliche Organisationsformen des Staates zu vergleichen und zu prüfen, an welchen Codes welcher Funktionssysteme sie sich – de facto, würde ich hinzufügen – orientieren und an welchen sie sich orientieren sollten.

      Was allerdings die Idee der Gesundheitsforschung angeht, so halte ich die für extrem gefährlich (wenn auch wahrscheinlich gut gemeint). Denn bei der Unterscheidung krank/gesund kann immer nur die »krank«-Seite markiert werden, nicht die andere Seite. »Gesundheit« ist ein Konzept, für dessen Beobachtung es kein Merkmal der Unterscheidung gibt (siehe die hilflose WHO-Definition). Man kann zwar die Definition von Krankheiten operationalisieren, aber nicht die der »Gesundheit«. Und das vermeintliche »Gesundheitssystem« ist daher immer nur ein System gewesen (und sollte es sein), in dem Krankheiten behandelt werden. Eine Therapie, die sich an »Gesundheit« orientiert, findet kein Ende (daher die »Kostenexplosion«). Ein gutes (wenn auch karikierendes) Beispiel dafür ist die Psychoanalyse, die als Ziel ihrer Kur »genitale Reife« angibt. Da es kein beobachtbares Merkmal der Unterscheidung dafür gibt, sind die Analysen seit Sigmund Freuds Zeiten von 20–30 Stunden auf mehr als 1500 bei orthodoxen Analytikern heute gestiegen.

      Jedes Gesundheitskonzept wird zwangsläufig normativ und engt Möglichkeiten der Kreativität und Innovation ein. Die Orientierung – auch in Bezug auf psychische und soziale Systeme – muss daher an dem erfolgen, was nicht (!) funktioniert oder nicht sein soll. Es ist wie mit dem darwinistischen Selektionsprinzip: Nicht der Fitteste überlebt, sondern wer überlebt, ist fit. Wir können auch in Bezug auf psychische und soziale Organisationsformen keine längerfristig haltbaren Aussagen über ihre Gesundheit machen, aber wir können sehr wohl sagen, was nicht zum Erfolg, zu Leid und Kosten aller Art, ja, zur Bedrohung ihres Überlebens führt. Wer sich bei der Konstruktion sozialer Systeme (von der Organisation bis zum Staat) an Gesundheit orientiert, landet früher oder später bei totalitären Systemen. Wir sollten daher – auf der politischen Ebene – nicht diskutieren, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, sondern, in welcher wir auf keinen Fall leben wollen.

      Diese Frage lässt sich dann auch kleinteiliger beantworten, wenn es um die Bedrohung durch ein Virus geht …

      Negative Gesundheit, negative Freiheit


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