Lockdown: Das Anhalten der Welt. Fritz B. Simon
verhält es sich ganz ähnlich, und just in diesem Sinne waren meine Ausführungen gemeint: Ein Staat, der von Gleichberechtigung auf Gleichstellung umpolt, verhält sich wie der oben beschriebene Psychoanalytiker. Er lebt davon, Glücksschmieden den Hammer aus der Hand zu nehmen und sie nach seinem Bild zu formen. Das funktionale Äquivalent zur »genitalen Reife« ist dann der »conceptual penis« und somit die Kultur der politischen Korrektheit, die er mit Blick auf mehr ideologische als logische Formen sogenannter Wissenschaft karikiert.
Den Preis einer politisch korrekten »Wissenschaft« bezahlt man spätestens dann, wenn man im Ernstfall nicht mehr weiß, ob man als politischer Entscheidungsträger Wahrheiten oder doch eher Gefälligkeiten in jener Hand hält, in die ein staatlich alimentierter Wissenschaftler schon lange nicht mehr ungefragt beißt.
Insofern sind wir doch gut beraten, uns an Isaiah Berlins Konzept der »negativen Freiheit« zu erinnern, die sich als Abwesenheit von Einmischung definiert und sich nicht mit dem verwechselt, was man in Freiheit anstreben sollte oder kann.
Nun ist Nicht-Einmischung aber genau das, was ein Wohlfahrtsstaat und seine Getreuen nicht können. Ganz im Sinne de Tocquevilles hat deshalb inzwischen fast jede Lebenslage mindestens ein Problem, das nach wohlfahrtsstaatlicher Intervention verlangt. So entsteht das bekannte Paradox, dass mit dem Wunsch zu helfen die Hilfsbedürftigkeit steigt. »Gut gemeint« war schon immer das Gegenteil von »gut gemacht«.
Zementiert wird diese Kultur der Abhängigkeit nicht zuletzt durch Erziehung, und somit durch ein Funktionssystem, das uns nur deshalb als zweitrangig und aktuell kaltgestellt erscheint, weil wir es mit Organisationen wie Schule oder Universität verwechseln. Mit Blick aufs eigentliche Funktionssystem zeigt sich aber, dass Erziehung seit Langem und jetzt erst recht en vogue ist, und das nicht selten in ihrer primitivsten paternalistischen Variante. Tatsächlich schickt einen »Mutti« wieder regelmäßig zum Händewaschen. Auch soll man falschen Umgang vermeiden, erklären, wo man wann mit wem war, sein Smartphone vorzeigen, überall in Reih’ und Glied stellen und sich – nicht nur ganz wortwörtlich von Masken – bevormunden lassen. Für die offizielle Mehrheit scheint sich all das warm anzufühlen – Freiheit dahingegen kalt. Mit der »genitalen Reife« dieser Mehrheit wäre es demnach nicht weit her.
Derartige Tours de Force – auch und gerade durch die bislang weniger prominenten Funktionssysteme wie Gesundheit, Wissenschaft und Erziehung – sind wichtig, nicht zuletzt, weil die relative Vernachlässigung dieser Systeme erheblich zu Entstehung und Verlauf der aktuellen Krise beigetragen hat. Gleichzeitig muss deren Aufwertung nicht mit den von Fritz Simon und Michael Hutter beobachteten oder gar ersehnten absoluten Wertverlusten der ehemaligen funktionalen Platzhirsche einhergehen.
Aus einer wirtschaftlichen Perspektive kann sich die Corona-Krise noch als äußerst lukrativ erweisen: Wenn Daten das neue Öl sind, dann sind Gesundheitsdaten eine besonders raffinierte Form davon. So denkt man nicht nur im Silicon Valley, und das schon seit Jahrzehnten, und indem die Regierungen der Welt ihre Bürger nun systematisch ans Gesundheitsdatenspenden gewöhnen, entsteht ein neuer »Big-Data-See«, dessen Schätze heben kann, wer das nötige Werkzeug hat. Auch droht der staatliche Griff nach dem »Hammer«, ein weiteres Stück »Natur«, Herdenimmunität, in ein potenzielles Geschäftsfeld zu verwandeln. Es entstehen neue Märkte für Lebenserhaltung und -verlängerung. Womöglich steht schlicht ein globaler Strukturwandel an. Altlinken könnte das und noch viel mehr Beleg dafür sein, dass die Wirtschaft die Politik mal wieder in der Tasche hat, und nicht umgekehrt.
In der Corona-Krise stehen und fallen die Werte der Funktionssysteme letztlich mit der Frage, ob hinter der Krise tatsächlich eine überdurchschnittlich große Gefahr aus der Viren-Wolke stand oder doch ein Fehlalarm; und die Entschiedenheit, mit der diese sachliche Frage aktuell in rechte und verschwörungstheoretische Ecken gerückt wird, zeigt, dass man kein Liberaler sein muss, wenn man ihre Beantwortung weder ausschließlich noch vorrangig der Politik überlassen will. Die spannende Anschlussfrage wäre also: Wem dann?
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