Stufen: Eine Entwickelung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen. Christian Morgenstern

Stufen: Eine Entwickelung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen - Christian Morgenstern


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       Inhaltsverzeichnis

      Es ist etwas in mir, das jagt und jagt einem Ziele zu. Das läßt mich in keiner Trägheit ganz ruhn, in keinem Glück ganz vergessen.

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      Ich möchte am liebsten auf einem Turm wohnen. Täglich im Leben drunten ein Bad nehmen, untertauchen, und dann wieder hinaufsteigen in sein Luginsland, sein au dessus de la vie.

      So oft ich unter neue Menschen gehe, so oft komme ich mit Wunden bedeckt von ihnen zurück. Es sind freilich nur leichte oberflächliche Schrammen, die bald wieder verheilen, aber sie haben, da sie entstanden, wie zehrendes Feuer gebrannt und besser vielleicht als eine tiefe Verwundung ihr Werk an meiner Seele getan.

      Ich kann ungeklärte Verhältnisse einfach nicht ertragen. Warum können die Menschen nicht offen gegeneinander sein? Reine Luft zwischen uns!

      Ich mag die Verärgerten nicht leiden.

      Meine Natur hat sich von früh auf mit Apathie beholfen. Diese Langsamkeit zu reagieren, hat alles, was auf mich einbrach, auf eine breitere Fläche verteilt, und was mir in einer Stunde unzweifelhaft den Atem abgeschnürt hätte, wurde mir so in Tagen 19und Wochen zu einem dumpfen Druck, der mein Leben nicht eben zerstörte, aber langsam und sicher ermattete.

      Und das Verhaßteste von allem wird einst geschehen: Man wird mir ‚Milderungsgründe zubilligen‘. (‚Er war ein guter Mensch, er wollte das Beste usw.‘)

      Was muß ich auf die Menschen für einen Eindruck machen, daß sie mich so oft wie ein unmündiges Kind behandeln wollen.

      Ich trage keine Schätze in mir, ich habe nur die Kraft, vieles, was ich berühre, in etwas von Wert zu verwandeln. Ich habe keine Tiefe, als meinen unaufhörlichen Trieb zur Tiefe.

      Mein nächstes Buch soll ‚Auferstehung‘ heißen, wenn mir noch eine Auferstehung beschieden sein sollte, im größten Sinne.

      Ich will gern alles gutzumachen suchen, was ich und andere mit mir schlecht gemacht haben, aber nur noch in mir, in mir selbst. Alles andere ist Sentimentalität und Pfuscherei.

      Ich hatte heute Nacht (24./25. II. 05) ca. 3/4 2 Uhr nach dem ersten Einschlafen wieder einen jener schon beschriebenen Gehirnzustände (etwa der achte in der Reihe), dessen Hauptmerkmal mir zu sein scheint, daß ich — innerhalb des Traumzustandes — aus einem unangenehmen Traum mit aller Willenskraft ins wache 20Bewußtsein hinausstrebe. Es ist der Grenzzustand des Erwachens aus einem peinigenden oder doch beunruhigenden Traum das eigentliche Thema eines solchen Traumzustandes. So erinnere ich mich augenblicklich nicht mehr des Traumes im Traume selbst, sondern nur noch des Erwachenwollens, ja scheinbar wirklich Erwachtseins im Traume. Ich schien mich endlich mit aller Kraft aus dem Krampf des Traumes losgerissen zu haben, aber ich glaubte nicht an mein wirkliches Erwachtsein. Da fühlte ich ein Fünfpfennigstück zwischen den Zähnen. Ich biß darauf: jetzt war kein Zweifel mehr: es widerstand, es schmeckte metallig; ich schien wirklich wach. Währenddem wachte ich mehr und mehr auf. Im letzten Stadium vor dem wirklichen Erwachen verwandelte mein offenbar klarer werdender Intellekt das Geldstück in eine Emser Pastille, die sich zu lösen begann und den salzig-säuerlichen Geschmack auf meiner Zunge verstärkte. Hierauf wachte ich wirklich auf und war verwundert, nichts in meinem Munde zu finden. (Ich hatte nebenbei bemerkt den Tag — aber nicht den Abend zuvor — einige Emser Pastillen gegessen.)

      Einem wirklichen Traume (28./29. Juli 05) folgend, möchte ich ein dramatisches Märchen orientalischen Charakters schreiben. Der Traum war etwa so: Eine Anzahl von uns, worunter mir noch M. Heimann, später auch Frisch (und seine Frau) erinnerlich, waren von andern eingeladen worden, Schriften (Dramen, Lyrisches, Lehrhaftes) eines fremden, höchst merkwürdigen Kulturvolkes (Chinesen, Inder?) kennenzulernen, um sie zu übersetzen. Es hieß, 12 Personen hätten genug 21auf Jahre zu tun, wenn sie einen Vorstoß in diese fremde wunderliche Literatur machen wollten. Zu dem Zweck wurden uns große Bücher vorgelegt, die mit schönen mönchischen Handschriften gefüllt waren, und uns Stellen vorgelesen, die uns außerordentlich bedeutsam erschienen. Zu gleicher Zeit glitten wir im Traum unmerklich mehr und mehr in dieses Land selbst, es wurde uns geraten, seine Tempel, Gärten, Theater, Schlösser kennen zu lernen. Ein Trupp von uns wurde herumgeführt. Ich erinnere mich eines ungeheuren Lesesaales, in den man uns blicken ließ und dessen uns entgegengesetzte Seite eine einzige gewaltige Glasscheibe abschloß, durch die man eine Schweizer Landschaft mit einer Stadt erblickte, — wie wir erfuhren: Bern und seine Alpen; augenscheinlich von jenen Leuten der Wirklichkeit nachgebildet und hinter jener Scheibe als Aussicht angebracht.

      Nach einer Weile verlor ich meine Gefährten. Ich nahm einen eigenen Führer und ließ mich von ihm, ich glaube nach einem Tempel, tragen. Der Träger trug zwei Stangen, die oben Fußtritte wie die Stelzen hatten. Auf diese trat man, während man sich an ihrem obersten Teile mit den Händen und Armen festhielt. Der Träger trug dann das Ganze wie eine doppelte Fahnenstange.

      Der Mann, den ich genommen, lachte auf meine Befürchtung, ich könne ihm zu schwer werden und versicherte, ich würde viel eher loslassen als er. Er trug mich durch reißende Kanäle und zuletzt begann ich sowohl müde zu werden, wie ihn zu fürchten. Hier schiebt sich irgendwo eine Vorstellung ein, die ich in einem der Theater gesehen haben muß und in 22der ein junges, süßes, zartes Geschöpf die Hauptrolle gespielt haben muß. Worte und Erscheinung überwältigten mich mit solcher Macht, daß ich in Tränen ausbrach. Und ich weinte so mit meinem ganzen Wesen, aber ohne jede Bitterkeit, nur aus tiefster Erregung der Seele, daß ich meine, dies Gefühl nie vergessen zu können. Was das Stück enthielt, weiß ich nicht mehr. Das Wort Samaria blieb haften und als hinterher wieder davon als von einem Übersetzungsangebot gesprochen wurde, hörte ich, daß die Sonne darin einmal mit Amanda angeredet wurde, was ich durch Alliebende (!) zu übertragen vorschlug.

      Chor (zu vorigem)

      Gebrochen von des Lebens vielen Strafen,

      hinwandl' ich meinen Pfad gebeugten Hauptes,

      schon nicht mehr hoffend auf des Himmels Gnade,

      die süßen Boten lächelnden Erbarmens.

      Wenn ich ein Musiker wäre, so würde ich eine Symphonie ‚Vineta‘ schreiben.

      Ich wäre als Maler gewiß in Menzels Spuren gegangen, so sehr interessiert mich jeder Gegenstand als rein malerisches Objekt.

      Wenn man durch Zusammenstellung der beiden Hände geheimnisvolle Figuren bildet, so habe ich ein besonderes Verständnis dafür und möchte sie alle kennen lernen. Für mich ist die Mystik der Hände unaussprechlich. (Dabei sind meine eigenen zwar klein, aber nicht schön. Nur der Handrücken — überhaupt die geballte Faust — ist gut und vielleicht die Daumen. 23Die andern Finger sind Herdentiere. Der Handteller ist sehr bemerkenswert: Ein Chaos von Linien um ein riesiges M.)

      Der ganze Wahnwitz unseres modernen Wohnens (ja Lebens) steigt mir aus dem Bild meines eigenen Umzugs auf: Wäre es nicht würdiger, sein bißchen Hab und Gut in einer Erdhöhle, die einem aber für immer gehört, wenn sie nicht ein Naturereignis vernichtet, zu bergen, als mit seinen Bündeln und Kisten durch prahlende Burgen zu irren, alle zwei, drei Jahre durchschnittlich den in festgemauerten Gelassen Seßhaften zu spielen, allen Ernst und alle Liebe zu einem eigenen Heim an teuer gemietete Wände zu verschwenden, die einem nie gehören können, die uns ewigen Nomaden Verhältnisse vortäuschen, die für uns eben nur erlogen, nur uneingestandene Kulisse sind. Mein Wohnungsideal ist das Zelt. Nur so weit möchte ich es noch bringen.

      Ich leide oft sehr an der Art meines Humors. Meine ewige Fragestellung, ob nicht jeder Humor ein Quantum Philistrosität einschließt.

      


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