Spielregeln für Game Changer. Kerstin Friedrich

Spielregeln für Game Changer - Kerstin Friedrich


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empfiehlt sein System von vollkommener Transparenz und Ermächtigung auch allen Unternehmenslenkern. Unter den komplexen und dynamischen Marktbedingungen sei hierarchisches Management zum Scheitern verurteilt, da wenige Menschen an der Spitze unmöglich alle Entscheidungen treffen könnten. Er plädiert selbst angesichts der Informationsskandale rund um Edward Snowden, Chelsea Manning und Wikileaks für vollkommene Transparenz. Die Frage, wann man wisse, wo die Grenze der Informationsfreiheit liege, beantwortet er mit einem lapidaren »Wenn es illegal ist«.

      In seinem Buch Team of Teams zeigt McChrystal unter anderem am Beispiel der US-Autogiganten General Motors und Ford, warum das Erfolgsmodell »hierarchisches Management« ausgedient hat und welches Erfolgspotenzial in der Kombination von Transparenz und Verbundenheit steckt.

       Veränderungen in der Automobilindustrie

      Ford gebührt das Verdienst, durch die Fließbandfertigung überhaupt erst den Massenmarkt für Automobile erschaffen zu haben. Durch die gigantischen Produktivitätssteigerungen wurde das Auto plötzlich für breite Schichten erschwinglich und Ford wurde der unangefochtene Marktführer. Das Festhalten an der bewährten Strategie des Einheitsautomobils machte allerdings den Weg frei für GM, das seinen Kunden eine große Auswahl bezüglich Ausstattung und Modellvarianten bot. Doch auch GMs Marktposition wackelte bald. Nach einer ganzen Reihe von Übernahmen drohte das Unternehmen im organisatorischen Chaos zu versinken und wäre beinahe in die Insolvenz gegangen. Das Unternehmen verlor Geld, aber niemand wusste genau, wo und warum. Im Jahr 1923 übernahm dann Alfred P. Sloan das Ruder und verpasste GM eine grundlegend neue Organisationsform. Für die einzelnen GM-Marken (z. B. Chevrolet, Buick, Oldsmobie, Cadillac) schuf er dezentralisierte Unternehmensbereiche (Divisionen) und unterteilte diese in spezialisierte Abteilungen für Design, Technik, Marketing, Produktion, Beschaffung und so fort. Die Spartenorganisation war geboren. Das Prinzip lautete: dezentrale Struktur unter zentraler Kontrolle. Alle Divisionen und deren Silos wurden mit klaren Ergebnisvorgaben geführt und berichteten an die Spitze. In der Folge kam GM wieder auf die Erfolgsspur und gilt als Paradefall für den Erfolg des hierarchischen Systems von Kommando und Kontrolle. Die Spartenorganisation wurde von praktisch allen Großunternehmen und staatlichen Verwaltungen übernommen.

      Bei GM ging das über Jahrzehnte gut, der Konzern wurde der weltgrößte Autohersteller und machte als erstes Unternehmen mehr als 1 Milliarde Dollar Jahresgewinn. Doch als in den 80er-Jahren die Konkurrenz durch die japanische Autoindustrie immer größer wurde und der Innovationsdruck stieg, geriet GM ins Schlingern. 2009 musste das Unternehmen in der amerikanischen Finanzkrise Konkurs anmelden.

      Durch den sogenannten Zündschloss-Skandal kam das ganze Ausmaß der internen Lähmung ans Licht: 124 Personen starben, weil sich durch eine Fehlkonstruktion des Zündschlosses der Motor abschaltete oder der Airbag nicht auslöste. Es gab eine offizielle Anhörung, in der GM ein verheerendes Organisationsversagen eingestehen musste. Jahrelang war man nicht in der Lage gewesen, die Ursache zu finden, geschweige denn sie abzustellen. Durch das Silosystem arbeiteten Spezialisten beziehungslos nebeneinander her, im schlimmsten Fall sogar gegeneinander. Durch den Fokus auf Effizienz ging das grundlegende Verständnis für das Auto verloren. Am Ende zahlte GM den Familien der Opfer 900 Millionen Dollar an Entschädigungen und musste 30 Millionen Autos nachbessern.

      Unter ähnlichem Druck stand auch Ford. Zur Jahrtausendwende hatte man dort die gleichen Probleme wie bei GM: Designer und Ingenieure hassten sich, Manager und Arbeiter hassten sich, und die gesamte Organisation war in Schuldzuweisungen und internen Grabenkriegen verstrickt. Ein Rekordverlust von 12,6 Milliarden Dollar im Jahr 2006 zeigte überdeutlich, wie es um das Unternehmen bestellt war. Das änderte sich, als im gleichen Jahr Alan Mulally von Boeing zu Ford wechselte. Er galt als Wunderkind: Bei Boeing hatte er unter anderem als leitender Ingenieur und Projektleiter das erfolgreichste Flugzeug aller Zeiten gebaut, die Boeing 777. Seine Philosophie beschrieb er durch die beiden schlichten Worte »working together« (zusammen arbeiten).

      Mulally hatte bei Boeing die Zusammenarbeit zwischen vorher isolierten Abteilungen durch totale, systemische Transparenz und bahnbrechende IT-Systeme befördert. Er ließ beispielsweise ein dreidimensionales IT-Modell der 777 anfertigen, anhand dessen jeder sofort sehen konnte, wie die geplanten Komponenten der einen Gruppe die der anderen beeinflussen würden.

      Nach dem gleichen System vernetzte Mulally 10 000 Leute bei Ford so, als arbeiteten sie in einem Kleinunternehmen. Ford hatte damals Hunderte von Unterabteilungen, in denen kleine Gruppen unendlich viele Meetings abhielten. Diese ersetzte er durch ein wöchentliches Meeting namens Business Plan Review. Während dieses Meetings gab es eine klare Negativliste: Geheimnistuerei, Smartphones, Witze auf Kosten anderer und Sarkasmus waren verboten. An deren Stelle traten totale Transparenz und Ehrlichkeit. Alles stand unter dem Motto »One Ford«. Auf der Basis gemeinsamer Ziele und Informationen spannte er alle Kräfte zusammen und schuf ein gemeinsames Bewusstsein, wobei er in dieses System auch die Zulieferer einband. Ebenso waren Diskussionen verboten – die Meetings waren nur dazu bestimmt, alle auf den gleichen Stand zu bringen, Erfolge wahrzunehmen und Probleme aufzudecken. Lösungen wurden anderswo gefunden.

      Als sich Chrysler und GM in Konkursverfahren befanden, war Ford wieder profitabel und konnte die Krise von 2009 ohne Staatsgelder überstehen. Mulally hatte bewiesen, dass man in den USA mit der Produktion von Autos Geld verdienen konnte. Er galt fortan als erfolgreichster Krisenmanager aller Zeiten und wurde berühmter als Sloan, weil er das genaue Gegenteil gemacht hatte: Er hatte Grenzen aufgelöst, für Transparenz gesorgt und die Entscheidungsmacht vom Zentrum in die Peripherie verlegt.12 Die Voraussetzung war das, was McChrystal ein gemeinsames Bewusstsein bei dezentralisierter Kontrolle nennt. Sein Fazit: Zusammen zu arbeiten funktioniert immer.

       Wie Selbstorganisation funktioniert

      Generell gilt: Je mehr Klarheit, Transparenz und Rückkopplung es in einem System gibt, desto weniger Interventionen (zum Beispiel in Form von Leitung und Führung) sind notwendig. Damit Menschen sinnvoll zusammenarbeiten können, brauchen sie eine klare Sicht auf die Dinge. Am wichtigsten sind Zielklarheit und komplette Transparenz über den Spielstand. Alles, was wir tun müssen, ist, ausnahmslos allen Mitarbeitern zu vermitteln, wie das Spiel funktioniert und wie der Spielstand ist – und ihnen dann zu erlauben, über Silogrenzen und Machtbereiche hinweg das Spiel zu spielen und zu gewinnen.

      Neben dem Effekt »wirksame Zusammenarbeit« gibt es noch einen weiteren wichtigen Grund, warum wir mehr Transparenz brauchen: Es geht um das bereits im ersten Kapitel erwähnte Thema »Anerkennung und Wertschätzung«. Zur Erinnerung: Wenn nicht sichtbar ist, welchen Beitrag wir zum Unternehmenserfolg leisten, fehlt es auch an Motivation. Statt sich aber nun auf die Suche nach neuen Motivationsmethoden zu machen, braucht man nur eine wichtige systemische Grundvoraussetzung zu erfüllen: Transparenz.

      Wir können aus der Biologie wunderbar lernen, wie Selbstorganisation funktioniert. Eine Pflanze braucht keinen Manager, um das zu werden, was sie werden soll: Ihre DNA gibt es vor. Ändern sich die Umweltbedingungen, verändert sich über Generationen hinweg auch die in der DNA gespeicherte Erbinformation. Jede Zelle weiß genau, was sie zu tun hat. Neben diesem Bauplan verfügt jedes Lebewesen über ein Informationssystem, mit dem auf äußere Bedrohungen und Engpässe reagiert werden kann. Schneiden wir uns beispielsweise in den Finger, läuft sofort und automatisch eine ganze Reihe von Prozessen ab: Im Gehirn kommt ein Schmerzsignal an, das uns unter anderem nahelegt, das betreffende Körperteil zu schonen. Mit der Blutung werden Bakterien und Keime ausgespült bzw. davon abgehalten, in den Körper einzudringen. Die Blutgerinnung verhindert weiteren Blutverlust und schließt die Wunde. Im Inneren beschäftigen sich die Fresszellen mit Krankheitserregern und abgestorbenen Zellen. Gleichzeitig bilden sich neue Hautzellen. Der gesamte Prozess wird durch eine Vielzahl von Botenstoffen organisiert.

      Ähnliche Abläufe existieren auf noch subtileren Ebenen. Auf jede seelische Regung reagiert der Körper sofort. Verspüren wir Angst, bewirkt der Hypothalamus eine Ausschüttung diverser Stresshormone, die den Körper für Kampf oder Flucht aktivieren. So steigen beispielsweise Herzschlag und Blutdruck, der Stoffwechsel


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