Ohne Freiheit ist Führung nur ein F-Wort. Carsten K. Rath
Jagd nach der Kokosnuss. Deshalb fällt so oft gar nicht auf, dass sie immer zuerst an den eigenen Vorteil denken. Wo alles konsensiert wird, lässt sich am Ende auch ein Misserfolg nicht schlüssig erklären und an seinen Ursprung zurückverfolgen. Und wo alle der gleichen Kokosnuss hinterherjagen, besteht daran auch gar kein Interesse. Eine Führungskultur, in der Menschen der Freiheit zu entscheiden beraubt werden, züchtet Corporate Monkeys: Führungskräfte, die gar nicht entscheiden wollen.
ENTSCHEIDUNGSFREIHEIT: EIN INDIKATOR FÜR QUALITÄT
Vielleicht war es ein Fehler, dass ich schon als Auszubildender Tom Peters gelesen hatte. Er musste später viel Kritik einstecken, weil sich einige seiner Prognosen darüber, welche Unternehmen in Zukunft erfolgreich sein würden, später nicht bewahrheiteten. Ob das tatsächlich daran lag, dass seine Schlussfolgerungen fehlerhaft waren, oder daran, dass sich die Rahmenbedingungen für wirtschaftlichen Erfolg einige Jahre später grundlegend änderten, sei dahingestellt. Für mich sind einige seiner Thesen dennoch bis heute wegweisend geblieben. Nicht unbedingt als Kriterien für Marktführerschaft, wohl aber als Indikatoren für die Umsetzungskompetenz von Unternehmen. Insbesondere drei davon habe ich später abgewandelt in all meinen Unternehmen bis heute zur Anwendung gebracht:
•Schnelle Entscheidungen und Problemlösungen verhindern, dass die Bürokratie überhandnimmt.
•Service-Persönlichkeiten sind nahe am Kunden und bereit, von seinen Bedürfnissen zu lernen.
•Besondere Unternehmen zeichnen sich durch Autonomie und Unternehmergeist auf allen Ebenen aus.
Aus diesen Prinzipien kann man meiner Meinung nach ableiten, wie eine gesunde Entscheidungskultur aussehen kann. Nicht nur im Service-Bereich, sondern überall, wo es darum geht, was der Kunde braucht. Und darum geht es in jedem Unternehmen eigentlich. In denen, die von Corporate Monkeys geführt werden, nur leider oft nicht operativ. Folgende Schlussfolgerungen über die Entscheidungskultur – also Führungskultur – eines Unternehmens lassen sich aus den obigen Prinzipien ableiten:
•Schnelle Entscheidungen und Problemlösungen sind nur möglich, wenn sie nicht erst durch die Hierarchiestufen hindurch debattiert und konsensiert werden.
•Nahe am Kunden sein kann nur, wer selbst befugt ist, auf die Kundenbedürfnisse mit konkreten, operativen Entscheidungen zu reagieren.
•Wir können nicht von Mitarbeitern erwarten, dass sie Unternehmergeist leben, und ihnen gleichzeitig keine Befugnisse übertragen.
Die Quintessenz dieser Erkenntniskette ist: Auch Mitarbeiter müssen autonom entscheiden können. Entscheidungen sind kein Führungsprivileg. Und gerade deshalb eine Frage der Führungskultur. Denn nur ein Leader, der selbst die Freiheit hat zu entscheiden, kann und wird auch seinen Mitarbeitern genau die Entscheidungsfreiheit einräumen, die sie brauchen, um einen guten Job zu machen.
FREIHEIT IST UNTEILBAR
Die Entscheidungsfreiheit des Leaders hat zwei Aspekte, die beide auf unterschiedliche Weise davon abhängig sind, wie abhängig oder unabhängig ich als Führungskraft bin.
Die Entscheidungsfreiheit des Leaders besteht darin, dass er in seinem Verantwortungsbereich autonom entscheiden kann und dass er nicht alles selbst entscheiden muss, sondern andere in ihrem Verantwortungsbereich ebenfalls autonom macht.
Ein Beispiel, um diese Dualität der Unabhängigkeit von Führungsentscheidungen zu verdeutlichen: An der Rezeption eines meiner Hotels steht ein sogenannter HWC-Gast. HWC steht für „Handle with Care“ – so werden in den besseren Grand-Hotels dieser Welt Gäste genannt, die man anderswo gern einfach als „schwierig“ abstempelt. Dieser Gast ist vielleicht schon zum x-ten Mal bei uns im Hause und erwartet, dass wir uns mit seinen Bedürfnissen auseinandersetzen. Und dieser Gast will ein kostenfreies Upgrade: Statt des gebuchten Deluxe-Zimmers verlangt er nach einer Business-Suite. „Das kann doch kein Problem darstellen. Für mich als Stammgast können Sie das doch machen! Ich komme in diesem Jahr garantiert noch zehnmal, da produziere ich doch genügend Umsatz …“
Wer sollte hier eine Entscheidung treffen? Und sollte es in Ihrem Unternehmen, wenn ein Kunde sich mit unerwarteten Ansprüchen zu Wort meldet? Wenn das Bauteil zum gleichen Preis plötzlich eine hochwertigere Lackierung bekommen soll oder wenn der Code für den Web-Shop ein zusätzliches Plug-in integrieren soll, von dem bisher keine Rede war?
In den meisten Unternehmen läuft in so einem Moment – und diese Momente sind garantiert auch bei Ihnen nicht selten – ein Entscheidungsprozess an. Was zunächst schon mal bedeutet, dass der Kunde in diesem Moment der Wahrheit vom Mitarbeiter, dem er gerade gegenübersteht, keine unmittelbare Lösung bekommt. Allein das erzeugt schon Frust, allein das wirkt schon nicht souverän. Ab hier kostet der Prozess, der nun anläuft, das Unternehmen aber auch schlicht und ergreifend Geld, denn ab hier müssen Zeit und Man-Power investiert werden für etwas, das der Mitarbeiter am Kunden sehr oft selbst regeln könnte. Um beim Beispiel zu bleiben: Was wird jetzt in den meisten Hotels passieren? Die Mitarbeiterin an der Rezeption stößt schon hier an die Grenzen ihrer Entscheidungskompetenzen und greift zum Telefon, um ihren Vorgesetzten anzurufen. Und der muss dann entscheiden, wie mit dem Kunden zu verfahren ist. Vielleicht muss der für sein Upgrade zahlen. Vielleicht bekommt er es einfach so. Vielleicht bekommt er irgendeine andere Vergünstigung oder das Versprechen eines Upgrades in der Zukunft. Höchstwahrscheinlich bekommt er aber nicht genau das, was er will.
Und das muss ihm jetzt wer verklickern und sich mit einem ungehaltenen HWC-Gast ein Tänzchen liefern? Die Mitarbeiterin an der Rezeption, die die Entscheidung nicht selbst treffen konnte oder vielmehr: durfte. Was ihre Ausgangsposition für die nachfolgende Diskussion schon mal ziemlich schlecht aussehen lässt, denn von Augenhöhe kann in diesem Gespräch ja wohl keine Rede mehr sein. Die Gute wirkt jetzt auf den Gast wie ein Roboter, der nicht viel mehr drauf hat, als ein Anmeldeformular auszufüllen. Sie hat ja schon einräumen müssen, dass sie eigentlich gar nicht die Richtige ist, um sich mit dem Kunden auseinanderzusetzen. Schlimmer noch: Kann sie keine Einigung erzielen (was aus dieser schwachen Position heraus sehr wahrscheinlich ist), steht sie doppelt unter Druck. Sie muss wieder bei ihrem Vorgesetzten anrufen, der wieder einen Vorschlag unterbreiten muss, den sie wieder diskutieren muss … Wahrscheinlich bekommt sie von beiden Seiten Dampf. Aber einer Lösung sind wir immer noch nicht nähergekommen.
Wer gewinnt bei diesem Prozess? Der Kunde? Sicher nicht. Die Mitarbeiterin an der Rezeption, die nicht selbst entscheiden darf? Verliert mindestens ihr Ansehen bei diesem Gast, vielleicht sogar bei ihrem Vorgesetzten. Der Vorgesetzte? Verliert Zeit und Nerven. Das Unternehmen? Verliert auf ganzer Linie.
Und jetzt stellen wir uns mal vor, wie viel schwieriger das Ganze wird, wenn diese Entscheidung noch durch eine weitere Hierarchiestufe gereicht werden müsste. Das Ergebnis wäre im schlimmsten Fall, dass ich irgendwann als CEO des Hotels selbst an der Rezeption stünde und mich mit dem Gast auseinandersetze. Dabei könnte die Mitarbeiterin, die dort steht, das viel besser als ich, denn sie wurde für diesen Job ausgesucht und geschult.
Und das alles wegen einer kleinen, operativen Entscheidung.
Zugegebenermaßen habe ich diesen Fall zu Demonstrationszwecken ausgereizt. Übertrieben habe ich aber keineswegs. Ich habe das schon mehrfach so erlebt, und zwar von beiden Seiten, als Führungskraft in Grand-Hotels und auch als Gast in Grand-Hotels. Ja, ich bin auch manchmal ein HWC-Gast. Hin und wieder sogar ganz bewusst.
Es gäbe eine ganz einfache Lösung für dieses kleine Alltagsdilemma, das so