Shake your Life. Ralph Goldschmidt
Er hätte überhaupt nicht zu dem gepasst, was mir wirklich wichtig ist. Denn ich war und bin mir über eines völlig im Klaren: Mein persönliches Leitbild beinhaltet zwingend Unabhängigkeit.«
»Leitbild?«
»Ja, Leitbild. Bitte hör genau hin, ich kann es auswendig …«
Dann bete ich ihm mein Leitbild herunter, in dem ich beteure, die volle Verantwortung für mein Leben zu übernehmen und das Bestmögliche daraus zu machen. Meine wichtigsten Werte kommen auch darin vor: Sinn, Spaß, Pro-Aktivität, Unabhängigkeit und Integrität.
»… Balance in meinen wichtigsten Lebensbereichen. Ich liebe meine Frau und meine Kinder aus tiefstem Herzen … und ich zeige es ihnen. Und ich liebe mich selbst. Ich habe immer die Wahl. Es liegt an mir!«
»Oh, das klingt gut. Alle Achtung!« Victor scheint wirklich beeindruckt. »Und so, wie du das vorträgst, glaubst du da fest dran, oder?«
»Ja, natürlich glaube ich daran. Ich habe diese Sätze schließlich mit Blut, Schweiß und Tränen und viel Hilfe von außen aus meinem Innersten herausgeholt. Da geht’s um meine wichtigsten Werte, das, was wirklich für mich zählt im Leben. Du hast gehört: Sinn, Spaß, Pro-Aktivität, Unabhängigkeit und Integrität.
So, und wenn ich jetzt diesen Beraterjob angefangen hätte, dann hätte ich etwas gemacht, von dessen Sinn ich nicht überzeugt gewesen wäre, bei dem mir der Spaßfaktor gefehlt hätte. Und ich hätte meine berufliche Unabhängigkeit aufgegeben – wieder ein Chef, vor dem ich mich zu rechtfertigen gehabt hätte, was ich tue oder lasse.«
»Du hast den Job sausen lassen? Das kann ich nicht glauben!«
»Na, sagen wir so. Ich war mir sicher, dass der Job ein Pakt mit dem Teufel gewesen wäre. Ich hätte mich verkauft, verschachert, prostituiert. Auf der einen Waagschale lagen meine Werte, meine Identität. Aber auf der anderen Waagschale lagen Frauen, Kinder, Gläubiger und vieles mehr.
Ich hatte mir eine Frist gesetzt: Wenn du es in einem halben Jahr nicht schaffst, von selbst wieder auf die Füße zu kommen, musst du eben auf den Strich gehen. Aber dann, vermutlich weil ich so entschlossen und klar war, habe ich einen Weg gefunden.«
»Oh, und was hast du gemacht?« Er hängt mir jetzt förmlich an den Lippen.
»Erst mal hatte ich meinen 40. Geburtstag und lag mit 40 Grad Fieber im Bett. Kein Zufall. Gott sei Dank war’s nicht der 42ste … Danach war ich klar. Meinen Kindern habe ich mein letztes Hemd gegeben. Dann habe ich Privatinsolvenz angemeldet. Kein leichter Schritt, das kannst du mir glauben.«
»Hammer!«
»Die Gläubiger haben noch ein bisschen was bekommen, ich habe meinen Kopf hingehalten, obwohl ich selber betrogen worden war. Alles weg. Fast alles. Mit zwei Sporttaschen, also meinem kompletten Eigentum, bin ich bei meiner neuen Freundin eingezogen.«
»Was, und die hat dich reingelassen? Bist du dir nicht vorgekommen wie ein Straßenköter, der von einer Tierschützerin mit Helfersyndrom aufgesammelt worden ist?« Victor kann es wohl noch nicht so recht fassen, aber er ist fasziniert.
»Nein, ganz und gar nicht. Ich war klar. Ich wusste genau, was ich wollte. Ich habe nach meinen Grundüberzeugungen gehandelt und ich hatte einen Plan, was ich künftig tun wollte. Ich war selbstbewusst. Und deshalb alles andere als unattraktiv. Meine Freundin hat kein Helfersyndrom und nimmt keine streunenden Hunde auf. Nein, ich war voller Energie. Der Neustart hatte schon begonnen.«
»Ich muss schon sagen, das finde ich ganz schön mutig. Ich meine …«
»Ich weiß nicht, ob es mutig ist, nach seinen Überzeugungen zu leben. Problematisch ist vielmehr, sich seiner Überzeugungen gar nicht bewusst zu sein. Wenn du weißt, was du willst, gibt es ja ohnehin keinen anderen Weg als deinen eigenen. Das ist dann kein Mut, sondern einfach nur Klarheit, Bewusstsein, Bei-sich-Sein.«
»Also, am unglaublichsten finde ich an der Sache, dass deine Freundin kein Problem damit hatte, dass du fertig warst.« Victor hält sein Longdrink-Glas wieder fest umklammert. Noch will er nicht loslassen.
Ich kontere: »Weißt du, das sagt doch jetzt mehr über dich als über mich. Warum glaubst du, dass ich fertig war, nur weil ich kein Geld mehr hatte? Ich habe das nicht geglaubt. Ich war nicht fertig, ich fing gerade erst richtig an. Und weil ich das glaubte, glaubte mir das auch meine Freundin. Frauen wollen Männer, die für etwas stehen, egal für was. Und die für sich einstehen. Und ich bin gestanden. Klar, das war nicht so einfach. Da gab es Gegenwind. Ihr Vater zum Beispiel hat schon Fragen gestellt. Ein Schwiegervater in spe steht nicht gerade drauf, wenn seine Tochter einen Typen hat, der zwei Kinder mitbringt und finanziell am Boden liegt. Aber auch ihm gegenüber habe ich mit offenen Karten gespielt. Und siehe da: Auch der hat das akzeptiert.«
Jetzt schaut Victor nachdenklich ins Leere und spielt an seinem Strohhalm rum. Ich denke, er braucht mal eine Pause. Ich gehe in den Keller, die Chips sind aus.
Als ich wieder hochkomme,
sitzt er immer noch da wie eine Statue. Ich gehe durch den Raum, sammle die Schälchen von den Tischen ein, kümmere mich um die paar Gäste, nehme zwei Bestellungen auf, komme zurück, stelle ein Espresso-Glas unter die Fiorenzato, schäume Milch für einen Cappuccino und frage Victor Wodka dreist: »Was ist dir wichtiger: deine Aufrichtigkeit oder keinen Ärger mit deiner Frau zu riskieren?«
Ich bringe die beiden Kaffees raus. Komme zurück, säubere die Chipsschälchen und frage: »Was ist dir wichtiger: dein Einkommen oder deinen Kindern gerade in die Augen sehen zu können?«
Ich kippe die Chips in die Schälchen und stelle die Schälchen aufs Tablett. Und frage: »Was ist dir wichtiger: tun, was du wirklich tun willst, oder deine Frau behalten?«
Ich trage das Tablett in den Raum und verteile die Schälchen, räume ein wenig auf und scherze mit einem Gast. Ich komme zurück und frage ihn: »Was ist dir wichtiger: dein …«
»Hör schon auf! Ich hab’s ja kapiert!«, knurrt er und blitzt mich an. Holla, da kommt ja die Energie wieder zurück. Die Akkus scheinen noch nicht ganz leer zu sein.
Er zahlt und geht. Ich freue mich darauf, wenn er wiederkommt.
Wenn.
Ich habe selbst mehrmals erlebt, wie das ist, wenn dein Wertesystem durch-sortiert wird. Ein Zuckerschlecken ist das nicht. Aber daran führt kein Weg vorbei, wenn man im Nebel stochert, so wie Victor. Wenn man nicht weiß, was man wirklich will, was einem wirklich, wirklich wichtig ist.
Ich war vor Jahren einmal in einem Seminar, als Teilnehmer, in Österreich. Lauter Business-Typen, auch der Trainer war so ein Managertyp, er ist übrigens heute noch im Geschäft und einer der Topleute der Branche. Das Seminar lief gut, ich fühlte mich wie ein Fisch im Wasser. Es kam, wie es kommen musste, die Grabrede-Übung war dran. Ich hatte die Übung bis dahin noch nie selbst gemacht, kannte sie nur aus dem einen oder anderen Buch. Ich wusste also, wie es geht und was da passiert, hatte mich aber immer schön davor gedrückt, mich selbst ins Visier zu nehmen.
Die Übung geht, kurz gefasst, so: Sie stellen sich vor, eines traurigen, trüben Tages frisch verstorben zu sein. Sie liegen im Sarg, der neben der frisch ausgehobenen Grube auf dem Friedhof darauf wartet, versenkt zu werden. Die Trauergemeinde ist da, Familie, Freunde, Kollegen, Umfeld. Sie suchen sich vier Personen raus, je eine aus diesen vier Kreisen. Ihre Aufgabe: Sie verfassen vier Grabreden über sich selbst, eine für jeden dieser vier Menschen. Was sollten – aus Ihrer Sicht – diese Menschen einmal berechtigterweise über Sie sagen können?
Ich fing also an, wählte aus dem Kreis der Familie meinen Sohn aus, meinen Zweitältesten, der damals gerade ein halbes Jahr alt war. Ich stellte mir vor, er sei zum Zeitpunkt meines Todes schon erwachsen, er stünde am Grab und erzähle von mir. Was sein Vater für ein toller, erfolgreicher Mann gewesen war, was er alles gut gekonnt hatte. Wie gut er dies oder jenes draufhatte.