Disruptive Thinking. Bernhard von Mutius
die Linie, die man fahren will, und zugleich jeden Stein, der zum Gegner werden kann, jeden Winkel, aus dem sich eine Lawine lösen kann.
Beides denken zu können, Widersprüche denken zu können, Gefahren zu erkennen und gleichzeitig Vertrauen zu haben, ist überlebensnotwendig. In jedem extremen Gelände. Disruptive Thinking ist deshalb die Kunst und Disziplin, mit Brüchen und Widersprüchen besser umzugehen. Es schafft die Voraussetzungen dafür, relevante disruptive Entwicklungen früher zu erkennen und sie in eine Gelegenheit zu verwandeln, eine neue Linie zu finden oder einen Sprung nach vorne zu tun.
Dieses Buch ist deshalb auch nicht einfach eine Handlungsanweisung oder ein Ratgeber herkömmlicher Art, sondern eher ein »Anleitfaden«, der den Leser dabei unterstützen soll, seine eigene Orientierung zu finden.
Natürlich verfügt Disruptive Thinking über eine Reihe von Tools, die sich in der Praxis in Innovations- und Transformationsprojekten bewährt haben, wie wir noch sehen werden. Aber Disruptive Thinking ist weniger ein neues Toolset als ein anderes Mindset. Es geht um Denken und Verhalten. Es geht darum, eine neue Anpassungsfähigkeit zu entwickeln und zugleich wieder Gestaltungsfähigkeit zu gewinnen, die uns mehr Freiheitsgrade gibt und mehr Wahlmöglichkeiten schafft.
Ich möchte den Leser mitnehmen auf eine Reise von der alten Welt in die neue Welt, eine dreiteilige Expedition in die Gedanken- und Erfahrungswelt von Disruptive Thinking. Man könnte die drei Teile »Gänge« nennen. Nicht zu verstehen als Menüfolge, sondern als Folge einer allmählichen Entwicklung der Gedanken beim Gehen, bei einer Wanderung querfeldein, bei der wir das Gelände aus unterschiedlichen Blickwinkeln erkunden und unsere Wahrnehmungen beobachten. Eindrücke sammeln und am Ende innehalten, um die Eindrücke zu sichten und mögliche Konsequenzen für unser künftiges Handeln zu ziehen. Jeder Gang mündet daher in einen praktischen Imperativ.
Wir werden uns bei jedem Gang in Spannungsfelder begeben. Wir werden ihnen nicht ausweichen. Wir können ihnen auch in der Realität nicht ausweichen. Spannungsfelder, Widersprüche, Dilemmata sind elementar für diese Umbruchszeit. Disruptive Thinking stellt sich ihnen, versucht sie zu meistern, an ihnen zu wachsen:
I. Gang
Wissen und Nichtwissen
Das disruptive Spiel beginnt
II. Gang
Routinen und Nichtroutinen
Die kreative Revolution erfasst die Organisation
III. Gang
Maschinen und Menschen
Wer bestimmt über unsere Zukunft?
In allen drei Gängen geht es zunächst um das Beobachten und Beschreiben typischer disruptiver Entwicklungen und Innovationen. Nämlich:
allgemein auf den Märkten und in der Wirtschaft (I),
mit Blick auf die Organisation und auf die Zusammenarbeit (II),
im Hinblick auf das künftige Zusammenspiel von Mensch und Maschine (III).
Daraus abgeleitet nehmen wir anschließend in allen drei Gängen mögliche praktische Schlussfolgerungen und Hilfestellungen durch nützliche Tools in den Blick:
zur mentalen Vorbereitung für die Strategie- und Innovationsarbeit (I),
für die Transformation der Organisation (II),
für die Kulturentwicklung (im weitesten Sinne) und für unsere eigene Entwicklung (III).
Oder noch kürzer: Zunächst sprechen wir über die Narrative, dann über die Imperative – die möglichen praktischen Imperative der Disruption.
Doch dies sind nur vorläufige Strukturierungen. Also nichts, was man in irgendwelche Kästchen oder Schubladen packen könnte. Das Thema Disruption lässt sich nicht kästchenförmig katalogisieren, wie wir noch sehen werden. Es hat eher etwas mit dem Aufsprengen der Kästchen zu tun. Disruptionen bringen Tools und Kataloge durcheinander.
Disruptionen ähneln Erdbeben. Erdbeben kann man bekanntlich nicht vorhersagen. Man kann erdbebengefährdete Gebiete benennen, Gesteinsschichten analysieren, immer genauere Messungen durchführen etc. Aber man kann nicht exakt wissen, wo und wann die Erde beben wird.
Disruptive Thinking reflektiert dies: Wir können nicht genau sagen, wo und wie sich die nächste Disruption ereignen wird – wir können technologische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungsmuster aufzeigen, damit wir nicht blind in irgendetwas hineinlaufen. Wir können Gestaltungsvorschläge machen, damit wir uns besser vorbereiten können. Aber das eigene Denken, das Entscheiden und die Übernahme von Verantwortung unter den Bedingungen zunehmender Ungewissheit – das kann uns niemand abnehmen.
Auch deshalb arbeitet Disruptive Thinking mit Fragen und mit Spannungsfeldern: Wissen und Nichtwissen, Routinen und Nichtroutinen, Maschinen und Menschen. Disruptive Thinking begnügt sich nicht mit einseitigen Bestimmungen. Nur Wissen, Routinen und Maschinen – das ist nicht genug. Das hieße, einseitig auf Gewissheiten, auf Zwangsläufigkeiten zu setzen. Sie lassen keine Wahl mehr. Da gibt es nichts mehr zu entscheiden. Nur noch zu exekutieren. Die Wege der digitalen Transformation scheinen vorherbestimmt. Manche hätten das gerne. Ich halte es für sachlich unrichtig, strategisch unzulässig und praktisch fahrlässig. Das unterscheidet Denken von bloßem Nachvollziehen des bereits Vorgedachten, also vom unreflektierten Gebrauch von Gefertigtem. Nach dem Motto von Friedrich Dürrenmatt: »Brauchbar ist eine Maschine erst dann, wenn sie von der Erkenntnis unabhängig geworden ist, die zu ihrer Erfindung führte.« Das ist hier nicht gemeint. Das hilft nicht, wenn man Neuland erschließen will. Disruptive Thinking setzt auf das Selbstdenken. Mit kreativem Vertrauen und Vergnügen. Neugierig, experimentell, vernetzt, bewusst und verantwortlich.
Nichtwissen und Fragen
Wenn ich von Nichtwissen spreche, dann ist das nicht tiefsinnig gemeint, sondern ganz unmittelbar, konkret und praktisch.
Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit Zukunftsfragen, mit Innovationen und mit dem Thema Transformation. Ich habe im Silicon Valley mit Pionieren der digitalen Ära bereits in einer Zeit gesprochen, als viele noch glaubten, Apple wäre eine Nischenfirma. Ich habe viele Veränderungsprozesse von Unternehmen begleitet und zahlreiche Innovationsworkshops, Zukunftswerkstätten und Leadership-Programme durchgeführt.
Manchmal, ich gestehe es, habe ich gedacht, mich könnte nichts mehr überraschen. Doch in den letzten Jahren ertappe ich mich oft bei der Wahrnehmung: Das Tempo der Veränderungen nimmt in unheimlicher Weise zu. Die Verdrängung von Altem durch Neues passiert in immer kürzeren Abständen. Täglich. Stündlich. Minütlich. Viele Leser werden das Gefühl kennen. Und das hat mit unserem Thema zu tun. Disruptionen, Brüche und Umbrüche, wohin wir schauen. Nicht nur in der Technik. Nicht nur auf dem Gebiet der Wirtschaft. Und immer häufiger müssen wir zugeben: Das wissen wir nicht. Oder wussten es bis gestern nicht.
Das heißt auch: Manches Faktum, das ich auf den folgenden Seiten schildere, kann überholt sein, wenn Sie als Leserin oder Leser dieses Buch in den Händen halten. Die Veränderungsgeschwindigkeit ist so hoch, dass bereits morgen ein neues Geschäftsmodell oder ein neues Unternehmen das Neue von heute alt aussehen lassen kann. Das ist ein Wesenszug dieser disruptiven Zeit. Bisweilen scheinen sich die Ereignisse zu überschlagen. Wir kommen kaum noch nach. Auch deshalb ist das Anerkennen des Nichtwissens im Wissen so wichtig für disruptives Denken. Es ist eine Voraussetzung zur Meisterung dieser kreativen Revolution.
Besonders relevant ist es für Manager und Führungskräfte, die heute über Zukunftsstrategien und langfristige Investitionen zu entscheiden haben. Etwa in der Automobilindustrie. Heute müssen sie entscheiden, welche Modelle in vier oder fünf Jahren auf den Markt kommen. Ich habe mit mehreren Automobilmanagern darüber gesprochen