Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Gunther Schmidt
gewünschte Erleben wird nicht nur erfragt, sondern synchron schon aktiviert. So wird nicht nur das Reiseziel bestimmt, es wird während seiner Bestimmung meist schon mehr oder weniger stark erreicht. Die Zielklärung wird zur Imagination des Zielerlebens. Von dort aus könnte es übrigens sehr wohl ausreichen, den Klienten die Einladung anzubieten, in ihrem Alltag immer wieder genau dieses gerade entwickelte Wunscherleben zu reaktivieren oder zu beobachten, wann es spontan, unwillkürlich auftritt. Solche Einladungen sind deshalb sehr sinnvoll, weil der Transfer des Erlebens in den Alltag noch nicht dadurch gewährleistet ist, dass es im Beratungskontext entwickelt wurde, denn der Alltag bietet völlig andere Kontextbedingungen. Da alles Lernen, Gedächtnis und Verhalten aber kontextbezogen abläuft, könnte es im Alltag wieder zurückgedrängt und dissoziiert werden. In der Konzeption von de Shazer wird oft genau so vorgegangen.
Der große Vorteil solcher Fragen ist aber, dass sie als Angebote wirken, die den Befragten die völlige Wahlfreiheit lassen und sie dabei auch noch unterstützen, sich diese auch zu gönnen, jedenfalls dann, wenn die angebotenen Fragen offen gestellt werden. Ich selbst plädiere auch sehr dafür, dass die hier beschriebenen Zusammenhänge, welche zu diesem Vorgehen führen, auch den Klienten von Anfang an völlig transparent erläutert werden (wie eine detaillierte Produktinformation), damit sie ganz gleichrangig „eingeweiht“ sind. In der ericksonschen Tradition wird diese Transparenz von den meisten Anwendern vermieden, da befürchtet wird, das bisherige, gewohnte Denken der Adressaten könnte die erhoffte Wirkung dann behindern oder gar zerstören. Auch Steve de Shazer lehnt solche Transparenz kategorisch ab (persönliche Mitteilung). Ich habe nur gute Erfahrungen mit ihr, die Kooperation wird dann gleichrangig, wird als achtungsvoller erlebt, und die Kooperationsbereitschaft der Klienten verstärkt sich noch erheblich.
Diese Haltung der Transparenz entspricht außerdem wesentlich mehr meiner ethischen Grundorientierung, mit Menschen so umgehen zu wollen, wie ich auch gerne hätte, dass man mit mir umgeht.
Sehr vorteilhaft wirken die beschriebenen Prozesse der Zielentwicklung auch deshalb, weil sie meist schon unmittelbar erlebbar machen, dass etwas vom Gewünschten zugänglich ist, dass also etwas in die gewünschte Richtung veränderbar ist. Da viele Klienten aber nach langen leidvollen Erfahrungen unterschwellig oder explizit eher glauben, dass ihre Probleme nicht veränderbar sind, bewirken die zieldienlichen Erfahrungen, die schon mithilfe der Zielvisionsfragen aktiviert werden können, oft sofort Hoffnung, Zuversicht und damit auch mehr Kraft und Motivation.
Validierung der Potenzialhypothese und optimale Logistik für die Reise
Noch wesentlich überzeugender und gehaltvoller werden die eben beschriebenen Maßnahmen, wenn der Blick gemeinsam durchaus auch in die Vergangenheit gerichtet wird, aber nicht auf die Problemepisoden, sondern auf Episoden, in denen schon einmal Ähnliches erlebt wurde, wie es in der Zielvision beschrieben wurde, oder sonstige hilfreiche Episoden. Solche findet man praktisch immer, auch wenn sie bisher aus dem Erleben der Betroffenen dissoziiert waren. Mit den gleichen Strategien wie bei der Zielentwicklung können die Erlebnisprozesse, welche mit den hilfreichen Episoden einhergingen, detailliert beschrieben und dabei ebenfalls intensiv reaktiviert werden, sodass sie nicht mehr nur Vergangenheit sind, sondern erlebte Gegenwart werden. Auch dies macht für die Klienten überzeugend erlebbar, dass gewünschte Veränderung möglich ist. Und: Es wirkt sich meist sofort sehr positiv auf ihr Selbstbild aus, denn es macht ihnen wieder klar, dass sie viel mehr nutzbare Potenziale in sich tragen, als sie bisher von sich dachten. Solche Erfahrungen, die man praktisch in jeder Beratung bzw. Therapie machen kann, wenn man nur konsequent darauf fokussiert, bestätigen deutlich unsere Potenzialhypothese.
In dieser Phase wird also mit Bedacht versucht, nicht die Problemvergangenheit, sondern die Kompetenzvergangenheit zu fokussieren. Das Motiv dafür ist selbstverständlich nicht, die Probleme zu bagatellisieren oder einseitig positiv über sie „hinwegzuschwätzen“. Aber stellt man viele Fragen, um z. B. das Problemmuster „verstehen“ zu wollen, kann dies in fataler Weise zu einer probleminduzierenden Fokussierung beitragen, die den Klienten sicher nicht hilft, es sei denn, es wird auf eine bestimmte Art gemacht, die ich später ausführlich erläutern werde (siehe auch das Kapitel Hypnosystemische Kompetenzentfaltung).
Die Ausführungen hier sollten aber nicht so verstanden werden, dass empfohlen würde, auf Gespräche über die Probleme so weit als möglich oder gar ganz zu verzichten. Dies wird zwar in der Konzeption von de Shazer vorgeschlagen. Dort wird immer angestrebt, jeden Problem Talk wenn möglich zu vermeiden (weil er ja das Problemerleben fokussiert) und ganz den Solution Talk (das Gespräch über Kompetenzepisoden) in den Vordergrund zu rücken. Aus der hier vertretenen hypnosystemischen Sicht würde dies aber als massiv einseitige Parteinahme für eine Richtung verstanden, und die Klienten erleben es nach meiner Erfahrung auch sehr oft so. Sie selbst sind ja sehr häufig noch intensiv mit der Problemperspektive assoziiert, einseitiger Solution Talk wirkt sich dann destruktiv aus und erweist sich als krasser Mangel an nötigem Pacing. Wie ich in den meisten der folgenden Kapitel noch zeigen werde, kann man sehr wohl sehr zieldienlich und kompetenzstärkend über die Probleme reden und so viel mehr zu einer als ganzheitlich achtungsvoll erlebten Kooperation beitragen.
Reisen mit dem Transportmittel „Imagination“
Auch wenn schon die „Reisezielbestimmung“ tendenziell (oder vollständig) in das gewünschte Erleben einmünden kann, erweist es sich doch oft als notwendig, die Erlebnisprozesse, die als Teil der Zielvision entwickelt wurden, in der weiteren Kooperation zu verstärken und zu stabilisieren. Dies geschieht in maßgeblicher Weise durch Variationen von Imaginationen. Angebote von bildhaften Vorstellungen auf allen Sinneskanälen, nicht nur visuell, werden dabei eingesetzt. Bei den üblichen Imaginationsmethoden wird, nachdem eine Fokussierung nach innen (oft mit geschlossenen Augen) vorgeschlagen wurde, dazu eingeladen, sich die gewünschten Erlebnisse so konkret und plastisch als möglich vorzustellen. Auch für die Ausgestaltung solcher Imaginationen dient wieder als Leitlinie die Beschreibung der miteinander zu Erlebnisprozessen assoziierten Sinneselemente (wie oben als Assoziationsketten von Erlebniselementen beschrieben).
Wie beim Fokussierungsprozess des Träumens werden damit die gewünschten hilfreichen Ressourcen reaktiviert. Imagination geschieht aber nicht nur durch Träume oder professionelle Imaginationsmethoden (wie z. B. das katathyme Bilderleben o. Ä.). Imaginiert wird bei jedem Sprechakt und bei jeder Kommunikation, auch wenn sie nur nonverbal geschieht, aber auch durch rituelle Bewegungen, Tanz, Gesang und Sprachmuster, die besonders nachhaltig auf die gewünschten Erlebnisbereiche fokussieren. In der ericksonschen Konzeption werden (wie schon erwähnt) neben der hier gerade beschriebenen Art von direkter Imagination viele indirekt angelegte Angebote gemacht. Besonders durch Metaphern, das Erzählen von Anekdoten, die Verwendung von symbolischen Interventionen, von Ritualen, aber auch von nonverbalen (mimischen und gestischen) Angeboten und durch beiläufige Gespräche mit vielen Fragen, die sich aber systematisch mit gewünschten Erlebnisprozessen beschäftigen, versucht man, eigenständige innere „Such-und-Findeprozesse“ hinsichtlich der gewünschten Potenziale bei den Klienten anzuregen. Generell, so könnte man sagen, werden alle Angebote als besonders günstig angesehen, die direkt oder indirekt quasi die Sprache des limbischen Systems und anderer entwicklungsgeschichtlich älterer Gehirnbereiche sprechen, denn diese sind am meisten für unwillkürliche Prozesse zuständig, und die sprechen nun mal nicht die kognitive Sprache des Cortex.
Erickson betonte mir gegenüber, dass er in über 50 Jahren Berufspraxis immer konsequent hypnotherapeutisch gearbeitet habe, aber maximal in 25 % seiner Arbeit direkte, „offiziell“ als solche definierte Tranceinduktionen genutzt habe. Die üblicherweise bekannten Tranceinduktionen sind also nur ein Sonderfall einer flexiblen, kontextadäquaten Hypnotherapie.
Und nicht nur die Erfahrung des Träumens beweist klar: Um unser jeweiliges Erleben sehr wirksam zu verändern, brauchen wir nicht erst lange herauszufinden, „warum“ wir das Bisherige erlebt haben, auch nicht, „woher es kommt“, wir brauchen es auch nicht noch einmal emotional zu „durchleben“ oder es „durchzuarbeiten“.
Wir müssen einfach nur eine andere Art der Aufmerksamkeitsfokussierung gestalten, und sofort reagieren unser Körper