Traumatische Verluste. Roland Kachler
der Willkürlichkeit des Todes brechen immer wieder auf. Eine intensive, lange Verlusttrauma- Psychotherapie für den verstorbenen Jungen und für die Eltern beginnt. Für solche und andere traumatischen Verluste brauchen wir als Berater und Psychotherapeutinnen ein neues Verständnis der Traumatisierungs- und Trauerprozesse und natürlich viele konkrete Handlungsmöglichkeiten für die traumatisierten und trauernden Hinterbliebenen.
1.1Eine andere Traumapsychologie und eine andere Trauerpsychologie
Viele Verluste werden von den Hinterbliebenen als traumatisierend erlebt. Wir sprechen dann von einem traumatisierenden oder traumatischen Verlust (Thompson, Cox a. Stevenson 2017; Carpenter a. Redcay 2019). Die damit verbundene Trauma- und Verlustreaktion bezeichnen wir als Verlusttrauma. Dieses ist mit einer massiven Traumareaktion verbunden, die einerseits den Reaktionen bei anderen Traumatisierungen gleicht, sich andererseits aber auch von diesen fundamental unterscheidet.
Deshalb brauchen wir ein neues traumapsychologisches Verständnis des Verlusttraumas. Die Psychotraumatologie eines Verlusttraumas muss ganz neu aufgestellt werden!
Dies wird häufig übersehen, sodass viele Trauerbegleitungen und -beratungen die Traumareaktion übergehen und versuchen, bei der Trauer einzusetzen. Nach einem traumatischen Verlust kommen die Betroffenen jedoch zuerst als Traumatisierte, die zugleich spüren, dass sie vom Trauma betroffene Trauernde sind, und erst später dann im eigentlichen Sinne zu Trauernden werden. Deshalb spreche ich in diesem Buch meist von Hinterbliebenen, weil diese Traumatisierte und Trauernde sind.
Ebenso sind die Trauerprozesse nach einem traumatischen Verlust ganz andere, weil sie von den Traumareaktionen massiv beeinflusst sind. Doch nicht nur die unmittelbare Verlust- und Trauerreaktion, sondern auch die Beziehung zum Verstorbenen1 sieht nach einem Verlusttrauma anders aus. Nach meinem Verständnis ist die Beziehung zum Verstorbenen ein zentraler Teil jedes Trauerprozesses, der hypnosystemisch verstanden immer auch ein Beziehungsprozess ist. Die Grundlage dieses Buches ist der von mir entwickelte hypnosystemische Traueransatz, in dem die innere Beziehung zum Verstorbenen ein wesentlicher Teil eines Trauer- und (!) Beziehungsprozesses ist (Kachler 2017; 2018; 2019). Deshalb brauchen wir auch ein neues Trauerverständnis für die Trauer- und (!) Beziehungsreaktion in einem Verlusttrauma.
Wir können also sagen, dass das Trauma bei einem Verlust den Verlustschmerz und die Trauer massiv beeinflusst und dass umgekehrt der Verlust die Dynamik einer Traumatisierung verändert. Zugleich verändert die Traumatisierung im Verlust auch die innere Beziehung der Hinterbliebenen zum Verstorbenen nach dessen Tod.
Merke!2
Die Traumatisierung bei einem schweren Verlust beeinflusst massiv die Trauer- und Beziehungsreaktion. Die Trauer- und Beziehungsreaktion gibt umgekehrt auch der Traumareaktion eine andere Dynamik.
Ein Verlusttrauma setzt sich zusammen erstens aus dem Verlust eines nahen, geliebten und existenziell wichtigen Menschen, der deshalb als schwerer Verlust erlebt wird, zweitens aus einem die Hinterbliebenen und den Verstorbenen (!) verletzenden, überwältigenden und damit traumatisierenden Tod und drittens aus den traumatisierenden, situativen Kontexten für die Hinterbliebenen bei diesem Verlust. Schließlich umfasst das Verlusttrauma viertens eine komplex miteinander interagierende Trauma-, Trauer- und Beziehungsreaktion der Hinterbliebenen. Die Art der Trauer- und Beziehungsreaktion hängt neben den traumatisierenden Aspekten auch von der bisher gelebten Beziehung der Hinterbliebenen zu ihrem verstorbenen nahen Menschen ab. Die Intensität der Trauma- und Trauerreaktion wird zudem von der Biografie, den Ressourcen und verfügbaren Abwehrmechanismen der Hinterbliebenen beeinflusst. Trotz dieser individuellen Kriterien bei den Hinterbliebenen ist ein schweres Verlusttrauma wie alle Traumata gerade auch dadurch definiert, dass es von der Mehrzahl der Betroffenen als überwältigend, bedrohlich, vernichtend und katastrophal, mithin also als traumatisierend erlebt wird (Maercker 2013).
Merke!
Ein Verlusttrauma umfasst den schweren Verlust eines geliebten Menschen, die Traumatisierung des Verstorbenen (!) und der Hinterbliebenen, die erlebten traumatisierenden Verlustsituationen und die sich gegenseitig beeinflussenden Trauma-, Trauer- und Beziehungsreaktionen der Hinterbliebenen.
1.2Kennzeichen traumatisierender Verluste
Der Tod eines nahen Menschen hat bei den meisten betroffenen Hinterbliebenen in aller Regel hohe traumatisierende Wirkung, wenn folgende Kriterien zutreffen:
•Existenzielle Bedeutung des Verstorbenen: Je wichtiger der verstorbene Mensch für die Betroffenen ist, je näher und fester die Bindung zum ihm ist und je intensiver die Beziehung gelebt wurde, desto schwerer wird der Verlust gerade dieses besonderen Menschen erlebt. Man könnte vereinfacht auch sagen: Je größer die Liebe zwischen den beiden, desto massiver wird der Verlust genau dieses Menschen erlebt.
Die existenzielle Wichtigkeit und die Tiefe der Liebesbindung werden von den Betroffenen natürlich ganz subjektiv erlebt und definiert. Deshalb verbietet sich jede Wertung von außen, stattdessen wird sie durch die Betroffenen ganz von innen und von der Beziehung zu diesem geliebten Menschen her vorgenommen. Sehr häufig sind es auch sehr individuelle Gründe, die die Bedeutung eines nahen Angehörigen bestimmen. So verliert eine Frau, die selbst kinderlos geblieben war, ihren für sie so wichtigen 30-jährigen Neffen bei einem schweren Autounfall und erlebt das wie den Tod eines eigenen Kindes.
•Totalität des Verlustes: Bei einem schweren Verlust spüren die Betroffenen sofort, dass der Tod ihres nahen Menschen alles umfasst, alles trifft und alles zerbricht – alles ist anders, nichts ist mehr so, wie es bisher war. Diese Totalität des Verlustes erfasst die ganze Person der Betroffenen ganz und gar, das ganze bisherige Leben ist verändert, in Frage gestellt und vernichtet. Eine Ehefrau sagt nach dem tödlichen Unfall ihres Mannes: »Nichts ist mehr so, wie es war, ohne meinen Mann kann ich nicht leben.« Die Totalität des Verlustes schafft das Gefühl der Überwältigung und der eigenen Ohnmacht.
•Plötzlichkeit des Verlustes: Plötzliche Verluste treffen die Hinterbliebenen völlig unvorbereitet, sozusagen von einer Sekunde auf die andere. Der Verlust kommt für sie völlig unerwartet, außerhalb jedes denk- und fühlbaren Erwartungsrahmens. Deshalb können sie sich weder zeitlich noch psychologisch auf dieses massive Ereignis vorbereiten. Hinterbliebene können deshalb ihre psychologischen Abwehrmaßnahmen nicht aktivieren, um sich zu schützen. Der Verlust trifft also auf wehrlose und verletzbare Angehörige: »Es war wie ein Blitzschlag, als die Polizei vor der Türe stand.« Ohne innere Vorbereitung führt der plötzliche Tod zu einer totalen Überwältigung der Hinterbliebenen.
Zudem ist kein Abschied möglich, häufig auch keine Klärung oder Aussprache über Konflikte oder belastende Geheimnisse. Genauso wenig ist es den Hinterbliebenen möglich, die letzte gemeinsame Zeit mit dem nahen Menschen bewusst zu erleben und aufzunehmen.
•Unzeitigkeit des Verlustes: Der Tod des nahen Menschen kommt meist insofern unerwartet, als dass mit ihm zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu rechnen war. Er läuft allen Erwartungen zuwider und wird als viel zu früh erlebt, besonders dann, wenn der nahe Mensch noch Kind oder Jugendlicher ist oder aber auch deutlich jünger, als es der normalen Lebenserwartung entspräche.
Die Hinterbliebenen erleben dies als Zerbrechen der sicher geglaubten Zukunft, Lebenskontinuität und der Sicherheit des Lebens. Dieses Zerbrechen der berechtigten Erwartungen und der üblicherweise vorauszusetzenden Regelhaftigkeit des eigenen Lebens wird als traumatisch erlebt, weil nun alle bisherigen Denk-, Fühl- und Handlungsroutinen abrupt abgebrochen und verunmöglicht sind.
•Vernichtungserfahrung: Bei schweren Verlusten wird der Tod unmittelbar als Vernichtung des Verstorbenen und zunächst auch der Beziehung zum Verstorbenen erlebt, die nie mehr real gelebt werden kann. Damit wird auch die Vernichtung oder zumindest die massive Bedrohung