Akupressur in Pflege und Betreuung. Dorothee Wellens-Mücher
Töpfen etwas sagt, glaube ich doch, Ferkel, daß ich erkenne, woher sie rufen. Also los.«
Aus: B. Hoff, Tao Te Puh 1987, S. 24
2.3 Verweilen auf den Punkten
Nachdem der Punkt oder die Punkte lokalisiert sind, ruhen die Fingerkuppen auf den Punkten. »Begleitende Hände« sind beim Lokalisieren der Punkte horchend und rezeptiv. Sie bleiben es auch, was sich in einer ruhenden Berührung ausdrückt. Die Hände sind anschmiegsam und weich. Dahinter steht auch die Absicht, dem Patienten ein Gefühl von Gehaltensein und Geborgenheit zu vermitteln. So wie die Hand auf dem Bauch der Schwangeren liegen bleibt und sich gegebenenfalls der Bewegung des Kindes anpasst, ist auch der Druck auf die Punkte in seiner Stärke gleichbleibend. Gibt es Bewegung, die von dem Punkt ausgeht, so wird diese begleitet. Die Finger lassen sich also von den Punkten bewegen und nicht umgekehrt. Dadurch entsteht eine Qualität von unterstützender Präsenz – wuwei.
Irgendwann hört die Bewegung wieder auf. Bei den Punkten geschieht das erfahrungsgemäß nach ca. 2–3 Minuten, was bedeutet, dass der Kontakt mit dem Punkt langsam gelöst werden kann.
Die Fingerkuppen ruhen auf den Punkten. Nur wenn es zu Bewegung in den Punkten kommt, gehen die Fingerkuppen mit dieser mit.
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch »Das wiedergefundene Licht« von Jacques Lusseyran (1995, S. 25–27). Er erblindete als Kind und beschreibt, wie er auf eine neue Art wieder »sehen« lernte.
»Als ich noch meine Augen hatte, waren meine Finger steif und am Ende meiner Hände halb abgestorben, gerade recht, die Bewegung des Greifens auszuführen. Jetzt ergriff jeder von ihnen eine Initiative. Sie wanderten einzeln über die Dinge, spielten gegeneinander und machten sich unabhängig voneinander, schwer oder leicht.
Die Bewegung der Finger war sehr wichtig [. . .]. Doch es gab noch etwas Wichtigeres als die Bewegung: den Druck. Legte ich eine Hand auf den Tisch, so wusste ich, dass da der Tisch war, sonst aber erfuhr ich nichts über ihn. Um etwas zu erfahren, mussten meine Finger einen Druck ausüben, und das Überraschende dabei war, dass mir dieser Druck gleich erwidert wurde. [. . .] Meine zum Leben erwachten Hände führten mich in eine Welt hinein, in der alles ein Austausch von Druck war. Dieser Druck verdichtete sich zu Formen, und alle diese Formen hatten einen Sinn. [. . .] Auf diese Art – die richtige Art – die Tomaten im Garten zu berühren, die Hausmauer, den Vorhangstoff oder einen Erdklumpen, heißt, sie zu sehen, sie fast ebenso genau und vollständig zu sehen, wie Augen es vermögen. Mehr noch: Es heißt, sich auf sie einzustellen, gleichsam den elektrischen Strom, den sie enthalten, an jenen Strom, mit dem wir geladen sind, anzuschließen, anders ausgedrückt, nicht mehr vor den Dingen zu leben, sondern zu beginnen, mit ihnen zu leben.«
Manche Ausführenden empfinden die Akupressur als sehr anstrengend, was vielleicht daran liegt, dass es schwer ist, den Weg heraus aus der Gewohnheit des »Machens« zu finden. Liegen aber die Fingerkuppen auf den Punkten, sind die Hände automatisch rund und damit weich und entspannt. Diese Entspannung setzt sich weiter in den Körper der behandelnden Person fort. Die oben beschriebenen Bilder drücken Weichheit und Anstrengungslosigkeit aus, und genau so fühlt sich das Ausüben der Akupressur für die Ausführende an. Diese »Arbeit« führt dazu, selber zur Ruhe zu kommen und wird zu »Verschnaufpausen« in dem oft hektischen Pflege- und Betreuungsalltag. Das gilt auch für Angehörige. Sie stehen oft unter dem inneren Druck, etwas tun zu müssen. Wuwei zu praktizieren, das heißt, gut zu tun, ohne zu tun, hilft vielen von ihnen, im Umgang mit dem Erkrankten auch für sich selbst ein wenig Frieden und Gelassenheit zu entwickeln.
2.4 Patienten sind bekleidet bei der Anwendung der Punkte
Immer wieder wird gefragt, warum die Patienten bei der Anwendung der Punkte bekleidet sind. Dafür gibt es mehrere Gründe. Der wohl wichtigste ist, dass beide, Patient und Anwender, die Punkte auf diese Weise viel besser wahrnehmen können. Das klingt zuerst einmal unlogisch. Da die Punkte aber im Bereich des Bindegewebes unter der Haut liegen, werden die oberflächlichen Sinnesreize, die bei direktem Hautkontakt entstehen, vermieden. So wird die Wahrnehmung mehr in die Tiefe gelenkt. Das gilt für den Patienten wie für den Behandler. Hauttemperatur, Härchen, Feuchtigkeit oder Unebenheiten der Haut sind ablenkend und machen daher das Erspüren der Punkte viel schwerer.
Mein Lehrer, Dr. Wataru Ohashi, sagte immer: »Spürst Du die Punkte, wenn der Patient leicht bekleidet und mit einer dünnen Decke zugedeckt ist, dann bist Du in Kontakt mit dem Qi.«
Da viele der Akupressurbausteine eine sehr entspannende Wirkung haben, kühlen die Patienten nicht aus, wenn sie bekleidet sind. Bei schwerkranken und bewegungseingeschränkten Menschen ist es sehr viel einfacher, wenn die Prozedur des Ausziehens wegfällt. Und zu guter Letzt: Die Akupressur kann überall durchgeführt werden.
3 Anleitung von Angehörigen
Da die einzelnen Bausteine sehr kurz und einfach auszuführen sind, ist es gut möglich, Angehörige mit einzubeziehen. Das ist aus verschiedenen Gründen sehr sinnvoll.
• Die Hilflosigkeit, die Angehörige von schwerstkranken Menschen häufig empfinden, kann durch die Möglichkeit, Akupressur durchzuführen, zum Teil überwunden werden. Da ein wesentlicher Aspekt der Akupressur die einfühlsame und mitfühlende Berührung ist, können auf diesem Wege Liebe und Zuneigung zum Ausdruck gebracht werden. Das Erleben, dem Patienten wohl zu tun, wird besonders von Angehörigen oft dankbar angenommen.
Abb. 3.1: Akupressur als eine Form der liebevollen Zuwendung
• Da es besonders im Umgang mit Schwerstkranken und Sterbenden Berührungsängste insbesondere in Bezug auf die körperliche Ebene gibt, kann der formalisierte Kontakt dazu beitragen, eine Berührungskultur zu entwickeln. Die Wirkung der Akupressur ist für die Ausführenden taktil erfahrbar und in der Reaktion des Patienten ersichtlich. Daraus können sich ein Verstehen und eine Kommunikation auf einer verbalen und nonverbalen Ebene entwickeln.
Berührung überwindet Sprachlosigkeit
Ein 32-jähriger Gast im Hospiz war aufgrund seines Krebsleidens körperlich sehr verändert. Vor seiner Erkrankung war er ein sehr gutaussehender Mann gewesen. Nun waren Bauch, Beine und Geschlecht aufgrund starker Ödeme massiv angeschwollen. Für seine Frau war der Anblick kaum zu ertragen und neben der allgemeinen Sprachlosigkeit zwischen den beiden hatte sie große Abneigung, ihn zu berühren. Der Patient hatte von Akupressur gehört und erhoffte sich eine Entlastung in Bezug auf seine Ödeme. Auch wenn die Chancen dafür sehr gering waren, wurde ein Versuch gemacht und die Ehefrau