Still ruht der See. Gisela Witte
sind noch von der Familie erhalten geblieben. Kathrin steckt nacheinander alle größeren Schlüssel an ihrem Bund in das Schloss des Schrankes, aber keiner passt. Gerne hätte sie mehr über sein Innenleben gewusst.
Frank hat das letzte Zimmer belegt, das an die Terrasse grenzt, mit Blick auf den See. Wie überall, wo er sich aufhält, herrscht auch hier penible Ordnung. Eine Ordnung, die sie manchmal als zwanghaft empfindet. Vor das Fenster hat er einen hellen Holztisch gestellt, den er als Schreibtisch nutzt. Zwei Kugelschreiber, ein roter Marker und der teure Füllhalter, den sie ihm zu Weihnachten geschenkt hat, liegen in Reih und Glied nebeneinander, daneben ein Schreibblock und ein blauer Terminkalender, den er offensichtlich vergessen hat. Das kleine grüne Licht an seinem Laptop leuchtet. Einen Moment gerät sie in Versuchung, seine Mails zu lesen, um mehr über seine Geschäfte zu erfahren. Aber wäre das nicht ein Vertrauensbruch?
Bevor sie zurück in die Halle eilt, begnügt sie sich damit, die pedantische Ordnung zu stören, indem sie den Füllhalter aus der Reihe nimmt und ihn schräg auf den Tisch hinlegt.
Auch die Zimmer im ersten Stock sind nur spärlich mit Möbeln ausgestattet. Wo sind all die Möbel geblieben, die sie hier noch vor Jahren gesehen hat? Ein Raum, mit einer Schlafcouch, zwei Sesseln, einem Tisch und einem Schrank, führt zur Terrasse. Nach einigen Versuchen gelingt es ihr, die Flügeltüren zu öffnen. Sie tritt hinaus und ist sofort überwältigt von dem Blick auf den See. Bestimmt wäre Simone auch von der Aussicht begeistert. Sie wird ihr den Raum überlassen, wenn sie zu Besuch kommt.
Franks Terminkalender geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Ob sie nicht doch – nur ganz kurz - hineinschauen soll?
Sie geht die Treppe hinunter, läuft durch die Halle, durchquert alle Räume bis zu Franks Zimmer, zögert einen Moment und greift entschlossen nach dem Terminkalender auf dem Tisch. Unter dem heutigen Datum steht: »13 Uhr, Treffen mit M., Blumen«. Das Wort Blumen ist dick unterstrichen. Wer ist »M«? Einem Geschäftspartner würde er sicher keine Blumen mitbringen. Sie spürt ein Ziehen in der Magengegend. Ist das wieder eine von Franks Affären? Bisher hat er es immer geleugnet, wenn sie ihn zur Rede gestellt hat. Die Katze lässt das Mausen nicht, flüstert ihr eine hässliche Stimme zu.
Kapitel 4
Die vier Frauen aus Brünn warten bereits vor der Tür und winken ihr zu. Tina parkt den VW-Bus direkt vor dem Haus, steigt aus dem Auto und geht lächelnd auf sie zu.
»Dobry dzien«, grüßt Tina auf Polnisch und anschließend mit einem »Ahoi« auf Tschechisch und gibt ihnen der Reihe nach die Hand. Tina hat eine Weile gebraucht, um sich an den tschechischen Gruß zu gewöhnen. Für sie hört es sich an, wie eine Grußformel bei der Seefahrt.
»Wie geht`s Wo ist denn Jelena? Ist sie noch nicht fertig?«
»Jelena nicht da. Gestern Abend sehen aus Haus gehen«, sagt Aneta, eine kräftige blonde Frau um die dreißig.
»Dann werde ich mal nach ihr schauen, ob sie verschlafen hat.«
Tina schließt die Haustür auf. Erst vor wenigen Monaten hat Jörg diese Bruchbude am Stadtrand von Potsdam angemietet, um die Reinigungskräfte aus Polen und Tschechien unterzubringen. Aber sie hat ja nichts zu sagen. Nur ihr Ehemann Jörg und dessen Schwester sind in der Geschäftsführung. Auf deren Wunsch wohnen die Frauen, jeweils nach Herkunft in unterschiedlichen Etagen.
Die ausgetretenen Stufen knarren, als sie die Treppe hinaufläuft. Von der Wand bröckelt der Putz. Wie oft hat sie Jörg schon gebeten, das Haus renovieren zu lassen, um den Frauen eine menschenwürdige Unterkunft zu geben. Früher zeigte er mehr Mitgefühl mit anderen. Sie erkennt ihren Mann nicht wieder. Das ist der Einfluss seiner geldgierigen Schwester Manuela.
Oben angekommen bleibt sie vor einer Tür stehen und klopft energisch. »Jelena?« Keine Antwort. Tina drückt auf die Klinke – die Tür ist verschlossen. Das ist nicht das erste Mal, dass Jelena nicht zur Arbeit erscheint. In den zwei Jahren, die sie für den Reinigungsservice arbeitet, ist es schon mehrmals vorgekommen. Wenn Jelena verliebt ist, vergisst sie alles andere und der Job wird zweitrangig.
Tina steigt verärgert die Treppe hinunter. Später, nach Dienstschluss, wird sie noch einmal nach Jelena sehen.
Die Frauen haben sich schon ins Auto gesetzt und blicken sie fragend an. Sie zuckt die Achseln.
»Was wir machen heute?«, fragt Aneta.
»Wir haben einen Auftrag, für ein Haus in Potsdam. Acht Zimmer. Soll schon länger leer stehen, sagte der neue Besitzer.« Tina mag derartige Aufträge nicht. Man weiß nie, welche Überraschungen ein verlassenes Gebäude bereithält. Häufig ist die Arbeit nicht an einem Tag zu erledigen.
Nach nur zwanzig Minuten Fahrt verrät das Navi, dass sie ihr Ziel erreicht haben. Sie steigen aus. Tina hievt zwei Körbe aus dem Auto, einen davon drückt sie Aneta in die Hand.
Hinter einer hohen Hecke wird ein graues, schmuckloses Haus sichtbar. Tina schließt die Gartentür auf. Der Kiesweg lässt sich unter den Gräsern nur noch erahnen. Ein verwilderter Garten umwuchert das Haus.
»Ach, du meine Güte. Hoffentlich sieht es drinnen nicht genauso aus!«, ruft Tina aus und dreht sich zu den Frauen um. Als sie die schwere Eichentür aufschließt, bestätigen sich ihre Befürchtungen. Offensichtlich ist das Haus schon seit langer Zeit nicht mehr bewohnt worden. Tina inspiziert sämtliche Räume. Die einzigen vorhandenen Möbelstücke findet sie in der Küche vor, einen großen Holztisch mit vier Stühlen. Im Wohnzimmer hängt ein großformatiges Gemälde, auf dem Früchte abgebildet sind. Aus einer mit pausbackigen Engeln bemalten Keramikschale quellen Weintrauben, Feigen, Pfirsiche. Sie scheinen aus dem geschmacklosen Gefäß fliehen zu wollen. So ein Bild hätte sie auch im Haus zurückgelassen.
Die Fußböden sind mit einer Schmutzschicht bedeckt, die Fenster, mit Efeu zugewachsen, lassen nur wenig Licht herein. »Das schaffen wir nie an einem Tag« sagt Tina. Die Frauen nicken zustimmend.
»Zumutung«, zischt Aneta empört. Tina macht mit ihrem Handy einige Fotos von den Räumen, um den Zustand des Hauses zu dokumentieren. Das hat sich schon häufig als nützlich erwiesen, wenn Kunden im Nachhinein den Preis drücken wollten.
Sie ruft den neuen Besitzer an und teilt ihm mit, dass das Haus nicht an einem Tag zu reinigen sei. Dieser reagiert nicht sonderlich erstaunt und schickt ihr per SMS umgehend eine Bestätigung, dass er mit den höheren Reinigungskosten einverstanden ist.
»Warum nicht erst renovieren und dann saubermachen«, sagt Aneta und schüttelt verständnislos den Kopf.
»Ja, das frage ich mich auch. Aber das ist nicht unser Problem. Als Erstes entfernt ihr in allen Zimmern den Staub und putzt bitte zu zweit die Fenster im ganzen Haus.«
Die Küche ist bereits gereinigt, als Tina Mineralwasser, Gläser, eine Thermoskanne mit Kaffee, einen Apfelkuchen und Tassen aus einem der mitgebrachten Körbe auf den Tisch stellt.
Tina tritt aus der Veranda in den Garten. In den alten
Apfelbäumen zwitschern Vögel, der Duft von Heckenrosen weht herüber. Es herrscht ein lebendiges Insektenleben, ein Summen und Brummen in den Gräsern, die ihr bis zum Knie reichen. So eine Wiese hatte sie sich für ihren Garten gewünscht, aber Jörg konnte sich mit seiner Vorstellung, wie ein Rasen auszusehen hat, durchsetzen: kurz und penibel gepflegt. Gegen Mittag wird der Gärtner kommen und nach Jörgs Anweisung dem Wildwuchs ein Ende setzen. Er wird all die Gräser und Blumen zerstören, die vielen Insekten ein Zuhause geben.
Nach der Arbeit, am frühen Nachmittag, fährt Tina die Frauen zu ihrer Unterkunft.
»Hat Jelena einen Freund?«, fragt sie unvermittelt, als sie das Haus betreten.
„Ich glauben«, meint Aneta. »Manchmal sein viel Krach mit Mann in Zimmer.« Die Anderen zucken die Achseln.
Erneut eilt Tina in den ersten Stock. Sie klopft an die Tür und ruft laut, aber es rührt sich nichts. Auch ist die Tür verschlossen. Sie stellt fest, dass die anderen fünf polnischen Frauen, die im gleichen Stockwerk wohnen, noch unter Aufsicht ihrer Schwägerin im Einsatz sind.
Aneta