71/72. Bernd-M. Beyer
Kritiker der „Times“ dagegen meint: „It is a Nobel Prize novel if ever I saw one.“ Tatsächlich gibt das Buch den Ausschlag dafür, dass Böll ein Jahr später den Literaturnobelpreis erhält.
„Gruppenbild mit Dame“ ist nicht eben ein Pageturner, dennoch findet das Werk ein großes Publikum. Im Herbst 1971 steht es sieben Wochen lang auf Platz eins der „Spiegel“-Bestsellerliste. Mit diesem Erfolg wächst die Prominenz des Autors erheblich, was ihm im rauen politischen Klima der kommenden Monate noch zu schaffen machen wird.
Seelenlose Millionenelf
Bundesliga, 7. Spieltag +++ 18. September 1971
Bayern-Trainer Udo Lattek will schon nach sieben Spielen resignieren: „Wir sind müde, bei uns ist der Dampf raus.“ Gerade hat man zu Hause gegen Arminia Bielefeld nur ein lausiges 1:1 erstochert und muss froh sein, dass Gerd Müller überhaupt die Bielefelder Führung egalisieren kann. Auch mit dem mauen Besuch – 21.000 Zuschauer – ist man unzufrieden. Bayern-Präsident Neudecker glaubt, dass zu viele Menschen am Samstagnachmittag Besseres zu tun habe n, und schlägt, ganz kommerziell getriebener Visionär, eine Aufsplittung der Spieltage vor: Abendspiele am Montag, Donnerstag und Freitag.
Bei Hannover 96 regiert erst recht der Frust. Nachdem der Tabellenletzte zu Hause gegen den 1. FC Kaiserslautern 1:2 verloren hat, proben die Spieler den Aufstand gegen Trainer Helmut Johannsen. Sie werfen ihm mangelndes pädagogisches Geschick und schlechte Kommunikation vor. Als einer von ihnen, Horst Berg, während des Spiels ausgewechselt werden soll, weigert er sich, den Platz zu verlassen, und reißt sich wütend das Trikot vom Leib. Seine Mitspieler überreden ihn mühsam, doch er bleibt auch nach dem Spiel aufgebracht: „Sie können mir sofort die Papiere geben, unter diesem Trainer arbeite ich nicht mehr.“ Die Zuschauer halten zum Spieler und beschimpfen Johannsen; manche wollen ihm an den Kragen gehen. Er flüchtet durch einen Seiteneingang aus dem Niedersachsenstadion.
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Schalke dagegen triumphiert mit einem 2:0 über Werder Bremen und zeigt dabei laut „Kicker“ sein „bestes und reifstes Spiel in dieser Saison“: „Technik, Kampf und Schnelligkeit – gespickt mit herrlichen Torschüssen –, das war ein Leckerbissen.“ Den zweiten Treffer erzielt Rolf Rüssmann per elegantem Seitfallvolley; damit wird er in der ARD-„Sportscha u“ zum Nachfolger seines Mannschaftskollegen Libuda beim „Tor des Monats“ gewählt. Der Stan steht in Bremen nicht auf dem Platz; ein Grund dafür wird nicht genannt.
Die teure Bremer Offensivabteilung mit Werner Görts (seit Langem an der Weser), Herbert Laumen (gerade aus Gladbach geholt) und Willi Neuberger (gerade vom BVB geholt) hat keinerlei Mittel gegen die starke Schalker Defensive gefunden. Nur der 36-jährige Haudegen „Pico“ Schütz ragt aus der restlos enttäuschenden Elf heraus, während Görts und Laumen zwar an den Flügeln rackern sollen, aber lieber die Mitte bespielen.
Schon früh zeichnet sich damit ab, dass sich die Großinvestitionen der Bremer nicht so auszahlen wie erhofft. Werder-Präsident Franz Böhmert hat seinen Verein als Repräsentanten der Stadt ausstaffiert. Statt der traditionellen grünen Trikots trägt man gestreifte in den Stadtfarben Rot-Weiß, statt des „W“ auf der Brust sieht man dort den Stadtwappen-Schlüssel, und auf dem Rücken steht statt „Werder“ nur noch „Bremen“. Mit dieser Imagekampagne sichert Böhmert seinem Verein finanzielle Wohltaten der örtlichen Geschäftswelt sowie die Unterstützung der Stadt, die 230.000 Mark Steuerschulden erlässt. Plötzlich hält man Geld in den Händen und geht damit auf Einkaufstour bei der Konkurrenz. Selbst Günter Netzer liebäugelt eine Weile mit dem Wechsel an die Weser. Der Transfer scheitert daran, dass er in Bremen nicht – wie in Gladbach – die Stadionzeitung vermarkten darf. Werder-Trainer Zapf Gebhard ist darüber eher erfreut, denn: „Der hat mir zu lange Haare, den kann ich nicht ausstehen.“
Weil aber nicht nur der aus Berlin eingekaufte Jürgen Weber weiß: „So gut wie Werder zahlt kein Klub in Deutschland“, kommen noch genügend Stars zusammen. Unter ihnen hebt nun, wie Pico Schütz später berichtet, „ein Hauen und Stechen“ an: um Einsätze, um die erwünschte Position auf dem Platz, um die obersten Plätze in der Hierarchie. Eine Mannschaft ist es nicht, die gegen Schalke so klanglos verliert, sondern eine seelenlose „Millionenelf“. Wenig später, Ende September nach einer 2:3-Heimniederlage gegen den VfB Stuttgart, wird Zapf Gebhardt als Trainer entlassen.
Vorübergehend springt Werders Meistertrainer von 1965 ein, „Fischken“ Multhaup, der sich eigentlich schon im Ruhestand befindet und beteuert, er wolle „nicht bis an die Friedhofsmauer trainieren“. Als „unbezahlter Freund des Vereins“ (Multhaup über Multhaup) überbrückt er die Wochen, bis der erst 31-jährige Sepp Piontek kommt. Der ehemalige Nationalverteidiger, der zwölf Jahre lang für Werders Erste gekickt hat, wechselt nun fast nahtlos vom Rasen auf die Trainerbank, geht zuweilen schon dem erfahrenen Multhaup als Assistent zur Hand, bezieht sein Gehalt allerdings weiterhin noch als Lizenzspieler. Ähnlich wie sein Düsseldorfer Kollege Lucas bevorzugt Piontek einen kommunikativen Führungsstil: „Ich bin davon überzeugt, dass der Typ des Feldwebels auf dem Trainingsplatz überholt ist. Ich wollte früher selbst angesprochen werden, als selbstständig denkender Mensch behandelt werden. Und entsprechend handhabe ich es jetzt auch: Wir diskutieren, ich nehme Anregungen entgegen.“ Er will mehr Demokratie wagen, sozusagen.
„Sie Drecksau“
Bundesliga, 8. Spieltag +++ 24./25. September 1971
In München wird Willy Brandt am 24. September auf offener Straße von einem jungen Mann attackiert. Der schlägt dem Kanzler ins Gesicht und ruft dabei: „Das ist für die Ostpolitik !“, nach anderer Version: „Das ist für den Verrat Deutschlands an Moskau !“ Es stellt sich heraus, dass es sich um einen 22-jährigen Taxifahrer und Studenten mit rechtsradikalem Hintergrund handelt. Er war als Fluchthelfer in der DDR inhaftiert und vom Westen „freigekauft“ worden. 1970 hat er auf der NPD-Liste für den Bayerischen Landtag kandidiert. In dem Zimmer, das er bewohnt, findet die Polizei ein Hitler-Bild an der Wand und „Mein Kampf“ auf dem Bücherbord. Willy Brandt verzichtet darauf, den Mann anzuzeigen (er wird später zu drei Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt). Die bayerische SPD sieht die Tat als „Ergebnis nationalistischer Hetze“ und „hemmungsloser Anheizung nationalistischer Gefühle“ auch durch CDU und CSU, ähnlich argumentieren einige liberale Zeitungskommentatoren.
Neben einer Demokratisierung der Gesellschaft ist die Ostpolitik das zweite zentrale Projekt von Bundeskanzler Willy Brandt und Außenminister Walter Scheel. Durch Gesten und Abkommen wollen sie die Narben des Weltkriegs und des Nazi-Terrors heilen, den aktuellen Kalten Krieg überwinden und zwischen dem realsozialistischen Osteuropa sowie dem kapitalistischen Westen eine Verständigung voranbringen. Auch der „Eiserne Vorhang“, der die DDR von der BRD abschottet, soll durch Entspannungspolitik und diplomatische Normalisierung durchlässiger werden. Unumstritten ist das keineswegs, CDU und CSU opponieren, die Vertriebenenverbände schäumen. Dem einstigen Exilanten Brandt wird Verrat der deutschen Interessen vorgeworfen, weil er mit der Oder-Neiße-Grenze, der Westgrenze Polens, eine Nachkriegsrealität anerkannt und vertraglich darauf verzichtet hat, die staatlichen Grenzen in Osteuropa gewaltsam zu verändern. Der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß sieht darin eine „freiwillige Kapitulation Deutschlands“. Auf einer Kundgebung der Vertriebenen wird skandiert: „Fegt ihn weg, den roten Dreck!“ Mitglieder der NPD schreien sogar: „Scheel und Brandt – an die Wand!“ Eine andere Mordphantasie zeigt ein Transparent des rechten Netzwerks „Aktion Widerstand“, das auch im Ausland große Beachtung findet. Es zeigt einen Galgen und trägt die Aufschrift: „Hängt die Verräter!“ Gemeint sind erneut Brandt und Scheel.
In den Augen rechtskonservativer wie auch brauner Geister ist Deutschland nicht zweigeteilt in BRD und DDR, sondern dreigeteilt: Einige Landstriche Polens sowie Ostpreußen warten seit Kriegsende darauf, wieder heim ins Reich geholt zu werden. Die DDR ist in dieser Sichtweise geografisch nicht Ost-, sondern Mitteldeutschland. An nicht wenigen Landstraßen stehen noch immer zerschrammte Schilder in den Kaiserreich- und Nazifarben Schwarz-Weiß-Rot. Auf ihnen ist ein zerspaltenes Deutsches Reich in den Staatsgrenzen von 1937 zu sehen, also aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Daneben steht ein zorniges: