71/72. Bernd-M. Beyer
Debatten erfassen sogar die Nationalspieler. Bundestrainer Helmut Schön berichtet vom Länderspiel gegen Dänemark, Juni 1971: „Zum ersten Mal in der Geschichte der Nationalmannschaft hatte es im Mannschaftsbus eine Art politischer Diskussion gegeben.“ Die Themen seien „quer durch den politischen Garten“ gegangen, „und natürlich konnte man sich nicht einigen“. Paul Breitner und Berti Vogts bilden die Antipoden in den Debatten, streiten sich beispielsweise heftig um die Einführung der Todesstrafe, die seinerzeit der hochrangige CSU-Politiker Richard Jaeger fordert und sich damit den Spitznamen „Kopf-ab-Jaeger“ verdient.
Zwar ist auch in der Bundesliga der Saison 1971/72 erstaunlich oft von „Mannschaftsrevolte“ oder „aufbegehrenden Spielern“ die Rede. Doch zu behaupten, der Geist der 68er habe nun den Fußball erfasst, wäre weit übertrieben, sieht man von Paul Breitner ab, der irgendwann mal unter einem Poster von Mao posiert. Bei seinen Bayern-Kollegen ist er allerdings hauptsächlich von CSU-Fans umgeben. Wenn die aufmucken, dann als Hedonisten, nicht als Revoluzzer. Selbst der angebliche „Rebell Netzer“ gibt im Nachhinein ehrlicherweise zu: „Vieles war nur Pose.“ Beziehungsweise: „Ich hatte keine Ideen von Rebellion.“ Und auch ein kluger Kopf wie Wolfgang Weber, Nationalspieler und Vizeweltmeister, der nebenbei Sport studiert, weiß in der Rückschau zu berichten: „An der Sporthochschule schlugen die Protestwellen nicht so hoch. Die Uni war nicht apolitisch, aber Politik spielte schon eine untergeordnete Rolle. Ich war Fußballer, mit Revolutionen hatte ich nichts am Hut.“ Die Vorstandsetagen der großen Vereine sind ohnehin traditionell konservativ gestimmt. „Bulle“ Weber, der mit der SPD sympathisiert, ist damit schon „für die ein Enfant terrible, ohne dass mir das jemand offen gesagt hätte“.
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Die Seitz’sche Analogie: „‚Mehr Demokratie wagen‘ verhieß spielerischen Offensivfußball“, scheint ihrerseits recht gewagt, klingt aber einfach zu elegant, um ganz falsch zu sein. Sicher allerdings ist: Die Schönheit des Spiels, das die Akteure in der Saison 1971/72 auf dem Rasen zelebrieren, verliert im Schatten immer neuer Skandalenthüllungen erheblich an Glanz. Der grandiose 101-Tore-Sturmlauf der Bayern – 800.000 Bundesliga-Zuschauern weniger ist er, verglichen mit der Vorsaison, eine Eintrittskarte wert. Der 7:1-Triumph der Gladbacher über Inter Mailand – vom Fernsehen nicht für übertragenswert befunden. Die hoffnungsvolle Schalker Elf, die nur knapp die Meisterschaft verpasst und mit dem DFB-Pokal endlich wieder eine Trophäe nach Gelsenkirchen holt – auseinandergebrochen im Strudel aus Meineiden und Sperren. Der Triumphzug durch die Europameisterschaft, den Helmut Schön seine „Traummonate“ nennt und der heute als ein Höhepunkt deutscher Fußballkunst gefeiert wird – seltsam unterkühlt zur Kenntnis genommen. Erinnern sich Zeitgenossen an den Moment, da Hacki Wimmer mit seinem Tor zum 2:0 das Finale entscheidet? An Feiern danach? Kaum.
Das mag auch daran liegen, dass die Welt brodelt in jener Zeit. In Vietnam fallen mehr Napalmbomben als je zuvor. In Nordirland beginnt mit dem Bloody Sunday eine Eskalation der „Troubles“. Der Nahe Osten brennt. Baader, Meinhof und ihre RAF morden gegen das Morden und schießen sich vergebens ihren Fluchtweg frei. Idole der Rockkultur sterben an einer Überdosis. Die kulturelle Revolution der sechziger Jahre, die Befreiung aus spießbürgerlicher Verkrustung und die Eruption politischer Proteste, all dies erodiert und mutiert, aber es ist noch virulent. Manches wird zum Mainstream, manches radikalisiert sich. Einige Utopien tragen späte Früchte, viele verdorren, und jedem erfüllten Traum steht eine Vielzahl zerbrochener gegenüber. Das Scheitern freiheitssuchender Außenseiter gewinnt eine eigene Ästhetik, ausgedrückt in Kultfilmen wie „Easy Rider“ oder „Zabriskie Point“ sowie in den vielen Che-Guevara-Plakaten, die an den Wänden rebellischer Wohngemeinschaften hängen. Der bei Linken beliebte Western „Il grande silenzio“, dessen deutscher Titel so bescheuert ist, dass er ungenannt bleiben soll, wird von seinem italienischen Regisseur den Politikern Martin Luther King, Che Guevara und Robert Kennedy gewidmet, die nur eines verbindet: Sie wurden ihrer Überzeugung wegen ermordet. Stilecht verblutet auch der stumme Held des Films beim Finale im Schnee, gemeuchelt vom bösen Kinski.
Im Fußball sind es Borussia Mönchengladbach und Schalke 04, die in jener Zeit für die Ästhetik des Scheiterns stehen. Schalke aus eigener Schuld, Gladbach eher unbegründet. Populär werden sie als geniale Teams, denen die letzten Weihen versagt bleiben. Einer Jugend, die zu großen Teilen der westdeutschen Leistungsgesellschaft und ihrem „Establishment“ kritisch gegenübersteht, ist allzu viel Erfolg suspekt, auch im Fußball. Die beiden Gladbacher Meisterschaften 1970 und 1971 werden durch das Scheitern im Europapokal erst veredelt. Das 7:1 gegen Inter wird zum Mythos, weil es vergebens ist. Die Schalker 72er-Elf erringt Heldenstatus als ein niemals eingelöstes Versprechen. Stan Libuda wird als Künstler verehrt, dem das Attribut „tragisch“ anhaftet. Und der blonde Heros Günter Netzer, so formuliert es der Sportjournalist Ulfert Schröder, „schien auf der Suche zu sein nach einem Glück, das irgendwo in der Ferne lag und das ihn nie erreichte“.
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Die Saison 1971/72 ist fußballhistorisch eine außerordentliche, im Guten wie im Schlechten. Dass es damals kaum so wahrgenommen wird, liegt vor allem an dem ereignisreichen gesellschaftlichen Umfeld und dem intensiven politischen Diskurs darum, der niemanden im Land kalt lässt. Dann schrumpft der Fußball doch recht schnell, vielleicht nicht zur Nebensache, aber doch auf seine eigentliche Bedeutung: mehr als ein Spiel, jedoch gewiss nicht wichtiger als Leben und Tod. Noch existieren keine Privatsender und keine DFL, die des Kommerzes wegen die Kickerei in absurde Bedeutungshöhen jazzen. Und noch gibt es keinen ARD-„Brennpunkt“, wenn beim FC Bayern ein neuer Trainer sein Amt antritt.
Es ist verlockend, die Saison 1971/72 ganz konkret im zeitlichen Kontext mit nicht-sportlichen Ereignissen und Entwicklungen zu schildern – und damit in gewisser Weise zu relativieren. Dabei zeigt sich: Eine Reihe bemerkenswerter Begebenheiten tangieren nicht einfach nur die zehn Monate dieser Saison, sondern sie entwickeln sich genau in diesem Zeitraum und kulminieren schließlich nahezu zeitgleich im Frühsommer 1972. Fußballerisch erleben wir den legendären Tanz von Helmut Schöns Künstlerensemble auf dem europäischen Parkett, ebenso den Schalker Sturmlauf gegen die sich anbahnende Dominanz des FC Bayern bis hin zum dramatischen Finale im neuen Olympiastadion. Im scharfen Kontrast dazu werden wir Zeugen immer neuer Enthüllungen, die nach und nach die Dimensionen des Bestechungsskandals offenlegen. Politisch sehen wir, wie der parlamentarische Putschversuch der Unionsfraktion gegen die sozialliberale Reformpolitik in Hinterzimmern eingefädelt wird und schließlich scheitert. Und wir betrachten eine historische und leider blutige Farce: wie die erste Generation der RAF gegen das „imperialistische Schweinesystem“ in die Schlacht zieht, die ganze Republik in Atem hält und kläglich endet. Schon die zeitliche Koinzidenz dieser Ereignisse macht aus der Saison 1971/72 ein vielschichtiges Drama, in dessen Wiedergabe es nicht nur um Fußball gehen sollte.
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Kurz nach dem Ende der Saison verbinden sich Sport und politisches Zeitgeschehen auf besonders tragische Weise. Die Olympischen Sommerspiele in München haben begonnen, man schreibt ihren elften Tag. Im Morgengrauen stürmen palästinensische Terroristen das olympische Dorf, nehmen israelische Sportler als Geiseln. Elf der Israelis werden sterben.
Am Abend dieses fürchterlichen Unglückstages soll im Olympiastadion die DFB-Olympiaauswahl gegen Ungarn spielen, mit Uli Hoeneß und Ottmar Hitzfeld im Sturm. Eine Viertelstunde vor Anpfiff wird die Begegnung abgesagt. 80.000 Zuschauer machen sich still und erschüttert auf den Rückweg.
AUGUST 71
„Sie sind Gauner, ganz schlimme Gauner! Diese Typen gehören eigentlich dorthin, wo Fußball als Bewegungstherapie verordnet wird: ins Gefängnis.“
Die „Bild“ am 7. Juni 1971 über die Akteure des Bundesligaskandals
„Canellas versucht nachzuweisen, was alle wissen, was aber bislang niemand beweisen konnte. Die Bundesrepublik ist voll von sattsam Bekanntem, doch Unbeweisbarem.“
„Der Spiegel“, ebenfalls im Juni 1971 über den Skandal
„Wer heute von gegnerischen Fußballklubs Tore kaufen kann, zahlt vielleicht auch für Botschaftertelegramme.“